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Konturen Hubert Oeggl
Studia Verlag Innsbruck
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von
Mitteln des Landes Tirol im Förderbereich Literatur und Schrifttum
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, der Verbreitung,
der Speicherung in elektronischen Datenanlagen sowie der Übersetzung,
sind vorbehalten.
E-Mail des Autors: h.oeggl@chello.at
© 2023 STUDIA Verlag
Herzog-Siegmund-Ufer 15
A-6020 Innsbruck
verlag@studia.at
http://www.studia.at
ISBN 978-3-99105-046-9
3
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.................................................................................5
Die „gestundete Zeit“ ist sichtbar geworden...................9
Die Renaissance des Bösen..............................................15
Dunkle Schatten der Vergangenheit...............................21
Kyrill steht voll hinter Putin.............................................24
Russischer Kolonialismus.................................................30
Historische Naivität...........................................................32
Hunger als Kriegswaffe.....................................................34
Versagen des Abendlandes...............................................36
Aggression zielt auf alle....................................................38
Freiheit und Sklaverei.......................................................40
Zelebrieren der Intoleranz...............................................42
Die Welt, in der wir leben................................................44
Grenzen der Empathie......................................................46
Keine moralische Instanz.................................................48
Gute alte Zeit vorbei..........................................................53
Die politische Wahrheit....................................................55
Abgesang des Wertesystems.............................................57
Osteuropa tickt anders......................................................59
Der Brexit hat auch sein Gutes........................................61
Risse im Gefüge der Demokratie....................................63
Migration und Integration...............................................66
Die Migration gehört zu uns............................................68
Abschottung keine Lösung...............................................70
Wir leben in der Defensive...............................................72
Angst vor der Zukunft......................................................74
Universum „Brüssel“.........................................................76
Gespenst des Nationalismus............................................78
4
Der Gordische Knoten EU...............................................80
Neue Sprache der Macht..................................................82
Politische Ängste...............................................................84
Das Aushebeln der Demokratie......................................86
Machiavelli entdecken......................................................88
Neutralität zum Ersten …,...............................................90
Ideologisch nie neutral.....................................................92
Die Heimat hat Konjunktur.............................................94
Politik unter Dauerdruck.................................................98
Lieber Militär als Demokratie........................................100
Die Worte im Griff halten..............................................102
Klimapolitik in Zugzwang..............................................104
Über die politische Freiheit im Alltag.........................106
Ohnmacht und Zuversicht.............................................113
Über die Rettung der Debattenkultur...........................117
Gesellschaft bedarf Kirche..............................................120
Empathie nur hohler Begriff..........................................122
Privater Raum ging verloren..........................................124
Wir schrumpfen und vergreisen...................................126
Sprache färbt die Gesellschaft........................................128
Unantastbar......................................................................130
Verrohung des Denkens.................................................132
Woher kommt diese Gewalt?.........................................134
Die Angst vor dem Superhirn........................................136
Bollwerk gegen digitale Willkür....................................138
Verwüstete Weltstadt......................................................140
Dankbarkeit vergessen....................................................142
Ich lebe gern in diesem Land.........................................144
Erster Frühling in Freiheit..............................................146
5
Vorwort
Die Welt der Nachrichten dreht sich rasant. Ungefiltert
konsumieren wir täglich aus Zeitungen, Fernsehen, Radio,
Facebook, Twitter oder anderen sozialen Medien Meldungen
über Kriege, Terror und Katastrophen. Was können wir
davon glauben, zumal in der tagesaktuellen Berichterstattung
die Hintergründe kaum ausführlich erklärt werden?
Wo liegt die Objektivität, wo die Zuverlässigkeit in diesen
Nachrichten, die oft aus dubiosen Quellen den Weg in die
Wohnzimmer finden?
Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, wir müssen selbst
die Orientierung suchen und das eigene Weltbild schärfen!
Weit von jeglicher Besserwisserei will und kann ich natürlich
mit meinen Texten keine gültigen Antworten liefern.
Die einzelnen Kolumnen wollen nur relevante politische
und gesellschaftliche Problemkreise beleuchten, die mir besonders
wichtig sind. Dabei wird offenbar, die Krise dieser
Welt ist eine moralische Krise.
Nur ein Wiedererstarken der Moral und der Empathie kann
uns aus dieser Krise führen. In einer Zeit großer Instabilität
zeigt sich, dass sich jeder in der Gesellschaft auf seinen Mitmenschen
stützen muss. Vielleicht wird dann vieles besser,
wenn der Einzelne kein Werkzeug der Manipulation bleibt,
sondern die Menschenwürde wieder im Mittelpunkt steht.
Beim Schreiben dieser Aufsätze und Kolumnen – einige
sind schon in der Tiroler Tageszeitung erschienen – ging
es mir immer auch um eine stilistisch prägnante Kurzform
der Sprache, die den Kern des jeweiligen Themas auf den
Punkt bringt.
6
Ich habe versucht, Inhalte, die es zuließen, so aufzuarbeiten,
dass das Lesen dabei auch Spaß macht. Großer Dank gilt
meiner Gattin und dem Studia-Verlag Innsbruck, die mich
bei der Umsetzung dieses Projekts unterstützt haben. Ohne
sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.
Hubert Oeggl
7
Krieg – Terror
9
Die „gestundete Zeit“
ist sichtbar geworden
Mit den Worten „Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf
gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont“ beginnt
Ingeborg Bachmanns berühmtes Gedicht „Die gestundete
Zeit“. Wenn es vordergründig auch von verlorener Liebe
handelt, führt das 1953 veröffentlichte Gedicht doch auch
eine düstere Klage über den angeblich restaurativen Zug
der damaligen Zeit ohne wirkliche Zukunft. Da irrte sie,
denn es waren nach dem Zweiten Weltkrieg viele bessere
Tage gekommen.
Doch im Herbst 2023 haben die „härteren Tage“ tatsächlich
in erbarmungsloser Realität begonnen. Große Krisen
wie Corona, Russlands Überfall auf die Ukraine, Migration,
Krieg in Nahost. . . nähren die Ahnung, dass es nicht
gut ausgehen wird. Es ist, als wäre die Menschheit von
Krisen eingeschlossen. Sind wir verdammt, in Schockstarre
zu verharren? Doch es hat sich des Öfteren erwiesen,
dass freie Gesellschaften imstande sind, selbst große
Wirrnis zu bewältigen.
Die Pandemie
Binnen drei Jahren haben uns mindestens vier Großereignisse
überrascht. Corona hat gezeigt, dass es auch den entwickelten
Gesellschaften nicht gelungen ist, einem in die
Häuser schleichenden Virus zu entkommen. Es war wie
ein Zeitsprung Jahrhunderte zurück in eine von der Pest
gemarterte Zeit mit Millionen Toten in ganz Europa. Die
Corona-Pandemie hat uns völlig unerwartet heimgesucht
10
und tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Sie hat
aber auch die Ängste genährt, dass uns selbst die beste
Medizin nicht helfen kann.
Der Überfall
Wie nichtig und verletzbar die europäische Nachkriegsordnung
ist, hat uns der barbarische Überfallkrieg Russlands
im Februar 2022 auf die Ukraine gezeigt. Wenn sich
auch durch den Ukrainekrieg die freie Welt zu einer bislang
undenkbaren Einigkeit zusammengefunden hat, an
manchen Stellen beginnen die Mauern dieser Geschlossenheit
zu bröckeln. Von einer globalen Sicherheit, die
wir erwartet haben, ist in einem wenig selbstbewussten
Europa fast nichts mehr zu spüren.
Die Migration
Die Kraftlosigkeit europäischer Politik offenbart die Lösungsprobleme
der Migration. Es bedarf großer Einigkeit
unter den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union,
die Flüchtlingsströme stärker zu regulieren, illegal Zugewanderte
zurückzuschicken und die Grenzen zu schützen;
wohl wissend, dass damit das Thema Migration noch
lange nicht gelöst wird. Wie in Zukunft umgehen mit dem
Recht dieser Menschen auf würdiges Leben?
Das Heilige Land
Das Heilige Land ist ein Völkerfriedhof, auf ihm ruhen
die Kanaaniter. Weder die Palästinenser noch die Juden
sind ihre Nachkommen. Ihre Nachfolger hingegen waren
zahlreich. Sie alle hielten sich im Lauf der viertausendjährigen
Geschichte des Heiligen Landes für die wahren
11
Eigentümer.
Indem sie Land in Besitz nahmen, meinten
sie, es auch erworben zu haben, sagt der Historiker Michael
Wolffsohn. Alle Besitzer des Heiligen Landes, auch
Juden und Araber, trugen von Anfang an den Makel, Eroberer
zu sein. Die gewaltsame Einnahme des Heiligen
Landes war sozusagen ihr Geburtsfehler.
Seit über 150 Jahren tobt nun schon der unheilige Krieg
zwischen Juden und Araber um das Heilige Land. Wie unheilig
zeigt sich im Sommer 2014, dem Gaza-Krieg zwischen
der Hamas und Israel und im Oktober 2023, wobei
die Hamas-Terroristen mehr als 1400 Israelis umbringen,
mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder entführen und
die eigene Bevölkerung in Geiselhaft hält: hungernd und
als menschliche Schutzschilde. Die Absicht Israels, die
Hamas endgültig militärisch zu zerschlagen, ist mehr als
verständlich und rechtens.
Die Massaker der Hamas über Jahrzehnte hinweg haben
in unvorstellbarer Brutalität bewiesen, dass die israelischpalästinensische
Konfrontation kein „eingefrorener Konflikt“
gewesen ist. Seit 1948 nach dem Rückzug der Briten
und einer blutigen, von zahlreichen Terroranschlägen der
zionistischen Untergrundorganisation Irgun überschatteten
Staatsgründung, lebten die Juden in der Gewissheit,
dass es nach dem Holocaust jetzt einen Ort auf der Welt
geben wird, auf dem sie mit Sicherheit leben können. Diese
Sicherheit ist fragil geworden.
Um den Nahostkonflikt zu verstehen muss man weit in
die Vergangenheit zurückblicken. Um das Jahr 70 nach
Christus lebten viele Juden rund um die Stadt Jerusalem,
dem heutigen Staatsgebiet Israels. Nach der Zerstörung
des heiligen Tempels durch die Römer zerstreuten sich die
12
Juden in alle Welt. Die jüdische Diaspora. Dort, wo die
Juden gern ihren Staat errichtet hätten wohnten mittlerweile
andere Menschen, die arabischen Peleschet, daraus
wurden im biblischen Hebräisch die Pelitschim und im
Griechischen die Palästinenser. Im Kern geht also darum,
dass beide heute Anspruch auf das komplette Gebiet erheben.
In 15 Jahren Gewaltherrschaft war es der Hamas jedenfalls
wichtiger, Geld für Raketen und andere Waffen auszugeben,
als sich um die zivile Infrastruktur in Gaza zu
kümmern. Gaza ist der bei weitem schlechter gestellte Teil
der beiden gegenwärtigen Autonomiegebiete der Palästinenser.
Auf einem 40 Kilometer langen und rund 12 Kilometer
Streifen leben rund zwei Millionen Menschen de
facto in einem „Stadtstaat“, jedoch in einem schrecklich
verarmten Land unter argen humanitären Verhältnissen.
Gaza ist ein gutes Kampfgebiet für Verteidiger, aber ein
Albtraum für die palästinensische Bevölkerung, die dort
beinahe schutzlos Angriffen ausgesetzt ist und keine Verbindung
zum Westjordanland, das fast siebenmal so groß
wie Gaza ist, hat.
Die Hamas sind nicht „die Palästinenser“, vielmehr ist diese
Terrorgruppe eine der vielen Katastrophen, die das gepeinigte
palästinensische Volk ertragen muss. Die Hamas
ist ein Ableger der Moslembruderschaft, deren Grundsatz
ist die Todesindustrie: Sie bringt keine Wohlfahrt, keinen
Wohlstand, keine Bildung, sondern nur den Tod. Das darf
nicht vergessen werden, auch wenn im Westjordanland
viele Palästinenser jubeln. Sowohl die Hamas als auch die
Hisbollah im Libanon, die über ein gewaltiges Waffenarsenal
verfügt, sind Werkzeuge des Iran.
13
Um zu verhindern, dass es so weit kommen konnte, hätte
auch Israel mehr tun müssen. Gemäßigten Palästinensern
hätte man mehr Erfolge bescheren können, die vielleicht
zu mehr Rückhalt in der Bevölkerung für einen friedlicheren
Weg gewesen wären. Zu lange haben die Falken
und Hetzer in der zerstrittenen israelischen Regierung geglaubt,
das Problem mit den Palästinensern nur technisch
lösen zu können, mit meterhohen Mauern und Drohnen.
Eine provokante Siedlungspolitik tut dann ihr Übriges
dazu und stachelt den Volkszorn gegen Israel erst recht
auf. Die Stimmen der großen Mehrheit der Bevölkerung,
die sich immer wieder für ein mögliches Miteinander zwischen
Israelis und Palästinensern eingesetzt haben, verhallen
bis heute ungehört.
Ja, auch Europa hätte viel mehr tun können, um zur Lösung
des Israel-Palästinenser-Konflikts beizutragen. Mehr
Druck auf beide Seiten, doch Europa hat sich an den
Dauerkonflikt
gewöhnt und sich jeweils an die eine oder
andere Seigte geschlagen. Der Nahe Osten ist kein anderer
Kontinent. Er gehört zu jener Großregion, von der
auch unser Schicksal abhängt. Wie im Kampf gegen den
Aggressor Russland muss Europa auch in dieser Region
zeigen, dass wir glaubhafte Verbündete beider Seiten sind.
Die Parallelen zwischen den Schauplätzen Ukraine, Israel
und Gaza sind kein Zufall, sondern weisen auf einen
funktionalen Zusammenhang hin. Durch die migrationspolitischen
Folgen der Nahost-Krisen werden jene Parteien
in Europa groß, die Putin fördert. Wenn wir den
Nahen Osten links liegen lassen, werden wir ihn Russland
oder China überlassen. Wir drohen dann wieder in jene
energiepolitische Abhängigkeit zu rutschen, aus der wir
14
uns in Osteuropa gerade zu befreien versuchen. Und nach
wie vor gilt, wenn Juden und Araber nicht endlich einen
Schlussstrich ziehen und einen lebensfähigen Kompromiss
finden, werden eines Tages beide die Verlierer sein.
Wem gehört nun das Heilige Land wirklich? Es gehört
niemandem, es gebührt allen. Allen, die überlebt haben.
Allen die dort leben wollen oder dort leben müssen. Das
Heilige Land gehört den Überlebenden der verschiedenen
Völker, natürlich auch Juden und Arabern. Es in einen
Nationalstaat umzuwandeln ist unrealistisch, meint Michael
Wolffsohn. Es kann de facto nur eine Zwei-Staaten-
Lösung geben.
Das Vertrauen
Die „härteren Tage“ sind angebrochen, auch in Europa.
Für uns aber, die wir in diesem Europa und in einer Demokratie
mit gesicherter Gewaltenteilung leben, besteht
kein Grund angesichts der Einkreisung so vieler multipler
Krisen, in Ratlosigkeit und apokalyptische Sorgen zur
verfallen. Wir verfügen als liberale Demokratien über die
notwendigen Instrumente, auch „härtere Tage“ zu meistern.
Die Politik muss endlich lernen, über den Tag hinaus
und in Visionen zu denken. Die Gesellschaft muss lernen,
auf sich zu vertrauen.
Quellen:
Tim Marshall: „Die Macht der Geographie“
Michal Wolffsohn: „Wem gehört das Heilige Land“
Ingeborg Bachmann: Gedicht „Die gestundete Zeit“
15
Die Renaissance des Bösen
Faschismus ist eine Herrschaftsform, die Demokratie eliminiert,
jede Meinungsfreiheit im Keim erstickt, rassistisch
ist und bei der sich die willenlose Masse fanatisch um
einen Führer schart. Willkommen in Putins Unrechtsstaat
Russland! In beinahe drei Jahrzehnten hat er das eigene
Land unterjocht und entmündigt. Er hat sich de facto mit
Russland gleichgesetzt.
Der Faschist Wladimir Ilitsch Putin feiert jedes Jahr am
9. Mai den Sieg über den Faschismus, dabei verkauft er
seinem Volk den Antifaschismus seiner Ahnen noch immer
als das vielleicht wichtigste Identifaktionsmoment.
Es scheint, als leide er dabei unter etwas, das man Putin-
Syndrom nennen könnte. Im zweiten Tschetschenienkrieg
ließ er die Menschen „bis auf die Latrine jagen,“ wie
er selbst formulierte. Es gab damals Zehntausende Tote,
großteils davon Zivilisten, die auf sein Konto gingen. Mit
dem Einmarsch in die Ukraine wurde der Faschismus für
alle offenkundig.
Seine geistigen Väter Iljin und Dugin zeigen, dass der Putinismus
kein bloßer Autoritarismus, sondern lupenreiner
Faschismus ist. Im Westen ist Iwan Iljin außer wachsamen
Historikern nicht sehr bekannt, doch der Kremlherr und
sein innerer Kreis sind seit jeher begeisterte Leser der rassistischen
Schriften dieses Philosophen, der von vielen als
Ideologe des russischen Faschismus gilt. Er propagiert die
geistige und moralische Überlegenheit Russlands gegenüber
dem Westen sowie die Errichtung einer nationalen
Diktatur, gestützt von Kirche und Militär. Genau dieses
Bild von Russland hat Putin vor Augen.
16
Iljins Vorbilder waren Hitler und Mussolini und bis zu
seinem Tod im Jahr 1954 hielt er an seiner Vision eines faschistischen
„Heiligen Russlands“ unter einem nationalen
Führer fest. Es ist dieser messianisch-christliche Faschismus,
der Wladimir Putins Welt ist. Er war übrigens im
Jahr 2005 persönlich an der Überführung der sterblichen
Überreste Iljins aus der Schweiz nach Russland beteiligt
und veranlasste die Weihung des Grabes.
Der heute 62jährige Alexander Geljewitsch Dugin, Philosoph
und Politologe, ist heute der stärkste Verfechter des
russischen Faschismus. Er stachelt schon seit Jahren zum
Krieg gegen die Ukraine auf. In seinem Buch „Grundlagen
der Geopolitik“ kündigt er an, dass aus Russland
ein großes eurasisches Reich werden würde, welches, mit
Deutschland und Japan eine Achse bildend, die USA aus
Europa vertreiben und die Nato zerstören wird. Der Bestseller
wurde schon Ende der 1990er Jahre als Lektüre in
die russischen Militärakademien aufgenommen.
Imperiale Nostalgie
Wie in allen diesen Regimen geht es allein um imperiale
Nostalgie, Restauration und Expansionismus. Die Quintessenz
ist offensichtlich: Ein Land ist in ein anderes eingefallen,
hat Wohnviertel, Krankenhäuser und Schulen zerstört
und Tausende Zivilisten getötet. Möglicherweise stört es
den Kremlherrn Putin nicht einmal, wenn man ihn einen
Faschisten nennt in einem ideologisch verwirrten Land,
in dem vorgesagt wird, dass Stalin und Hitler die größten
Politiker der Geschichte seien. Menschenleben zählen für
Putin nicht. Tausende russische Teenager in Zinksärgen
nimmt er heute leicht hin, tote Ukrainer scheren ihn oh17
nehin nicht. CIA-Direktor William Burns sieht in Putin
schon „seit Jahren eine jederzeit entflammbare Mischung
aus Kränkung und Ehrgeiz“ brodeln. Durch massive Propaganda
wurde den Russen eine Gehirnwäsche verpasst.
Die Gesellschaft wurde durch paramilitärische, patriotische
Clubs für Jugendliche und Schulkinder militarisiert
und die Verbreitung von Kampfsportvereinen wird unterstützt.
Putin will sich am Ergebnis messen lassen, er strebt das
„dreieinige Volk“ der Russen, Ukrainer und Belarussen
an. Offensichtlich will er auf seine alten und radikalen
Tage die „Schmähung“ der Geschichte überwinden und
die Sowjetunion ein Stück weit wieder herstellen. Ein
Auslandskorrespondent bringt es auf den Punkt: Putin
hat den Westen ausgetestet (wie einst Hitler die Staatengemeinschaft)
und hat gelernt, dass die Lüge nur gewaltig
genug sein muss, um damit durchzukommen.
Noch heute plappern in Deutschland ehemalige DDRGrößen
wie Gregor Gysi die Nato-Lüge nach, eine Art
Dolchstoßlegende Putins. Wie hätte die Nato zu einem
Zeitpunkt zusichern sollen, keine Erweiterung anzustreben,
als ihr östliches Gegenstück, der Warschauer Pakt,
noch existierte? Was für Hitler das „bolschewistische Judentum“
war, ist für Putin der Westen, der ihm auf seinem
gestohlenen Boden in den Rücken falle und Umstürze
vorantreibe. Dass Demokratie, Marktwirtschaft, Freiheit
und Frieden schlichtweg attraktiver sind, versteht ein Faschist
natürlich nicht.
Das heutige Russland ist, wie alle faschistischen Regime,
ein expansionistischer, messianischer Staat, der auf die
Renaissance seiner vermeintlichen Größe und göttlichen
18
Mission bedacht sei, sagt der Historiker Michail Khodorkovski,
Professor an der Loyola University Chicago.
Frieden stehe jedoch im direkten Widerspruch zu den
Grundfesten einer solchen Gesellschaft.
Patriarch Kyrill mit an Bord
Wie seit jeher in der russischen Geschichte ist der russisch-
orthodoxe Klerus mit Leib und Seele an Bord, um
Putins Diktatur und seine Kriege vehement zu unterstützen.
Am 6. März 2022 verurteilte Patriarch Kyrill in einer
Sonntagspredigt die „falschen Freiheiten“ des Westens
und schrieb die Schuld für den Krieg den „Gay-Pride-
Paraden“ zu, die er als „gewaltsamen Zwang zur Sünde,
die von Gottes Gesetz verurteilt wird“, bezeichnete. Anscheinend
ist das Oberhaupt der russischen Kirche der
Ansicht, diese Paraden rechtfertigen Russlands schreckliche
Zerstörung ukrainischer Städte und die Tötung unschuldiger
Zivilisten, von denen die meisten ebenfalls
Mitglieder der orthodoxen Kirche sind.
Dies alles trägt Früchte. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung,
auf Linie gebracht und infiltriert von einer
gewaltigen Propaganda, scheint den Ukrainekrieg zu
unterstützen, wenngleich dies angesichts der Informationsblockade
in Russland schwer zu beurteilen ist. Neben
der schweigenden Mehrheit gibt es die aktiven Befürworter,
die das Symbol „Z“ zeigen, das wie das Hakenkreuz
der Nazi ein Zeichen der Unterstützung für den nationalen
Führer und seine Politik geworden ist. Demonstrationen
gegen den Einmarsch in die Ukraine werden im
Keim erstickt.
19
Im Laufe der Jahre hat Putin einen enormen Repressionsapparat
mit Hundertausenden Polizeikräften aufgebaut,
die euphemistisch als „Nationalgarde“ bezeichnet werden.
Die Polizeieinheiten haben sich schon in den ersten Wochen
des Krieges gegen die Ukraine als brutal effektiv erwiesen
und Tausende von Demonstranten verhaftet.
Im Gegensatz zu anderen autoritären Regimen lässt der
Faschismus keine Mechanismen für einen Wandel von
innen zu. Es gibt nur zwei Wege, die dem Faschismus in
Russland ein Ende bereiten könnten: Der erste wäre ein
Staatsstreich, bei dem der Diktator abgesetzt wird, so wie
es die Verschwörer gegen Hitler 1944 erfolglos versucht
hatten. Der zweite wäre eine verheerende militärische
Niederlage. „Tatsächlich fanden wichtige Veränderungen
und Reformen in der russischen Geschichte nur als Folge
einer militärischen Niederlage statt. Russlands demütigende
Niederlage im Krimkrieg 1856 führte unmittelbar
zur Abschaffung der Leibeigenschaft, die Niederlage gegen
Japan 1905 zur ersten Verfassung und zum ersten Parlament,
die Niederlage im Ersten Weltkrieg zum Aufstieg
der radikalen bolschewistischen Partei und die Niederlage
in Afghanistan 1991 zum Zusammenbruch der UdSSR,“
listet der amerikanische Historiker Khodorkovksy auf.
Der Untergang der Sowjetunion verlief mehr oder weniger
gewaltfrei und wurde als friedlicher Übergang vom
Sowjetimperium zu den Nationalstaaten verkündet. Die
Gewalt freilich wurde nur um etwa dreißig Jahre hinausgezögert.
Wie sich herausstellte, hat sich Moskau und natürlich
Putin persönlich nie mit dem Untergang seines sowjetischen
Imperiums abgefunden. Der Zusammenbruch
der Imperien und das Entstehen von Nationalstaaten war
20
ein typischer historischer Prozess des 20. Jahrhunderts
und nur Nazi-Deutschland und das Russland unter Putin
entschieden sich dafür, ihre verlorenen Reiche mit Gewalt
wiederherzustellen.
Geopolitisches Desaster
Russland ist heute ein expansionistischer, messianischer
Staat, dem es um die Wiederherstellung seiner vermeintlichen
Größe und göttlichen Mission geht. Ein Frieden steht
dazu im direkten Widerspruch. Das faschistische Russland
kann entweder in Grenzen gehalten oder konfrontiert werden,
jedoch stehe angesichts des Ukrainekrieges eine Eindämmung
außer Frage, sagt Khodorkovksy.
Bis der Westen Russland militärisch konfrontieren muss,
scheint nur noch eine Frage der Zeit. Es geht inzwischen
um mehr als „nur“ um den Krieg existenzieller Konflikte
zwischen demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaften
und einer zynischen Diktatur. Wladimir Putins Herrschaft
wird einmal enden, aber jedem Nachfolger muss
die Aufrechterhaltung von imperialen Ansprüchen verweigert
werden. Russland und die russische Gesellschaft
werden ihre Vergangenheit überwinden müssen.
Im Jahre 2005 bezeichnete Putin den Zusammenbruch
der UdSSR als die größte geopolitische Katastrophe des
20. Jahrhunderts. Jetzt hat er das schlimmste geopolitische
Desaster Russlands im 21. Jahrhundert herbeigeführt.
Quellen:
Alexander Dugin: „Grundlagen der Geopolitik“
Andreas Kappler: „Ungleiche Brüder Russen und Ukrainer vom Mittelalter
bis zur Gegenwart“.
Michael Khodorkovsky: „Wie man einen Drachen tötet“
Kathpress
21
Dunkle Schatten der Vergangenheit
Die wechselvolle und weitgehend asymmetrisch verlaufende
Geschichte der beiden „Brudervölker“ Ukraine und
Russland in einem kurzen Aufsatz abhandeln zu wollen,
ist ein Unding. Hier geht es vielmehr um ein dunkles
Kapitel
der jüngeren Geschichte der Ukraine, dessen lange
Schatten bis in unsere Tage reichen und bis heute noch
nicht aufgearbeitet wurde.
Zwei Bilder tauchen auf. „Denk an uns, deine jüngeren
Brüder“
appelliert der Metropolit von Kiew Iov Borećkyi
im Jahr 1624 an den Zaren Michail in Moskau. Dass ausgerechnet
ein Ukrainer die Russen um Hilfe bat, hat seine
Gründe darin, dass im frühen 17. Jahrhundert die orthodoxe
Bevölkerung im damaligen Polen-Litauen unter dem
Druck der Katholischen Kirche und katholischer polnische
Adelige stand.
Ein Hilferuf anderer Art erreichte Wladimir Putin 2014
vom geflüchteten ukrainischen Ex-Präsidenten Janukowitsch
nach dem Blutbad auf dem Maidan-Platz in Kiew:
„Diese Anführer seien Faschisten und Banditen, die wie
die Nazis in Deutschland an die Macht gekommen seien!“
Bis heute hat sich dieser Verweis auf eine faschistische
Ukraine in Russland festgesetzt.
Der Zweite Weltkrieg ist heute noch, trotz des gemeinsamen
Anteils an Krieg, Leid und Sieg, Gegenstand heftiger
erinnerungspolitischer Kontroversen zwischen Russland
und der Ukraine, nicht zuletzt deshalb, weil die Bevölkerung
der Westukraine erst 1939 gewaltsam in die Sowjetunion
eingegliedert worden ist. Durch den Hitler-Stalin22
Pakt besetzte die Rote Armee 1939 das östliche Polen,
Galizien und West-Wolhynien. Die Ukrainer in Galizien
bekannten sich zum Unterschied von den Russen und übrigen
Ukrainern zur mit Rom unierten Griechisch-Katholischen
Kirche. Für Stalin war die Besetzung ein Akt
der „brüderlichen Hilfe“ und die Wiedervereinigung des
seit Jahrhunderten getrennten ukrainischen Volkes eine
Selbstverständlichkeit. Nach Rumänien kam am Ende des
Krieges auch die ungarische Karpato-Ukraine dazu.
Im Zuge der Sowjetisierung wurden die meisten Vertreter
der jüdischen und ukrainischen Eliten verhaftet, mehr als
eine Million Menschen wurden in den Osten der Sowjetunion
deportiert. Sie wurden durch Russen und Ukrainer
aus anderen Gebieten ersetzt und der Einmarsch
der Deutschen im Sommer 1941 in Galizien als Befreiung
begrüßt. Im Gefolge der Deutschen zogen in Lemberg
Milizen der 1929 in Galizien gegründeten Ukrainischen
OUN ein. Bewaffneter Widerstand sollte eine weitere Diskriminierung
der Ukrainer und eine Polonisierung verhindern.
„In ihrer undemokratischen ethno-nationalistischen
Ideologie und ihrer Militanz trug diese OUN Züge einer
faschistischen
Bewegung,“ sagt der Historiker Andreas
Kappeler. Ihr wichtigster Ideologe Dmytro Doncov wollte
einen nationalen ukrainischen Führerstaat und vertrat
trotz seiner russischen Abstammung einen extremen Antirussismus.
Vor allem unter dem jungen Stepan Bandera
(1909 – 1959) wurden zahlreiche brutale Massaker auf
polnische Politiker und ukrainische Kollaborateure verübt.
Dass er für die Ermordung von bis zu 800.000 Juden
23
durch die Deutschen in der Westukraine verantwortlich
zeichnet, streiten seine Verehrer bis heute ab.
Stepan Bandera rief 1941 in Lemberg einen unabhängigen
ukrainischen Staat aus, dem die Deutschen jedoch bald
ein Ende bereiteten. Einheiten, der aus der OUN hervorgegangenen
Ukrainischen Aufstandsarmee UPA ermordeten
– von ukrainischen Bauern unterstützt – 1943 in
Wolhynien 50.000 bis 60.000 Polen, um Platz für ukrainische
Siedler zu schaffen. Erst in den 1950er Jahren war
diese Widerstandsbewegung am Ende. Deren Anführer
Roman Suchevyć erfuhr den Nimbus eines Freiheitskämpfers
und der 1959 in München von sowjetischen
Agenten ermordete Bandera wurde für viele zum nationalen
Märtyrer.
In der heutigen Ukraine werden die Rollen von OUN und
UPA unterschiedlich bewertet. Während sie in Galizien
von vielen Ukrainern als Helden im Befreiungskampf
gegen die Sowjets gelten, sehen Ukrainer im Osten und
Süden sie als Verräter. Inzwischen sind zwar die letzten
Anhänger des Bandera-Kultes aus dem ukrainischen Parlament
verschwunden, doch die Geister dieser russischfeindlichen
Ideologie sind in Kreisen der Bevölkerung
noch lebendig. Russen werden dabei als Erbfeinde der
Ukraine angesehen. Festzustellen bleibt, dass die Ukraine
die ultranationalistischen Verwerfungen während des
Zweiten Weltkrieges bis heute noch nicht aufgearbeitet
hat.
Quelle: Andreas Kappeler: „Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer“
Deutschlandfunk Archiv
24
Kyrill steht voll hinter Putin
Die Kritik am Kreml gehörte schon in der Vergangenheit
nie zum Repertoire des Moskauer Patriarchen Kyrill I.
In regelmäßigen Treffen zwischen Wladimir Putin und
dem Kirchenoberhaupt wurde stets die volle gegenseitige
Unterstützung im Kampf Russland gegen „die Kräfte des
Bösen“ beschworen. Auch bei einer Feier zum „Tag der
Verteidiger des Vaterlandes“ am 23. Februar 2022 behauptete
Kyrill wie der Kreml, dass Russland an seinen Grenzen
bedroht werde und legte Tage darauf in einer Predigt
nach: „Wir dürfen uns nicht von dunklen und feindlichen
äußeren Kräften verhöhnen lassen.“
Orthodoxes Kirchenverständnis
In diesem orthodoxen Kirchenverständnis ist auch keine
Zurechtweisung des Staates vorgesehen, wenn dieser Andersdenkende
maßregelt. Die Kirche erhob keinen Einspruch
gegen die Annexion der Krim im Jahr 2014, gegen
die Militäraktion im Donbass oder jetzt gegen die Umzingelung
der Ukraine. Tausende Menschen, die in diesen
Tagen in ganz Russland gegen den Krieg in der Ukraine
demonstrieren, tun dies ohne den Schutz ihrer Kirche.
Der Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche verstehe
sich als „Patriarch der ganzen Rus und Primas der Kirche,
deren Herde sich in Russland, der Ukraine und anderen
Ländern befinde“, betonte Kyrill am Tag des Überfalls der
russischen Truppen auf das Nachbarland. Die Begriffe
„Angriff “ und „Krieg“ vermied er dabei, und Wladimir
Putin erwähnte er mit keinem Wort.
25
Stattdessen forderte der Moskauer Patriarch sämtliche
Konfliktparteien auf, alles zu tun, um Opfer der Zivilbevölkerung
zu vermeiden, und erinnerte an eine gemeinsame
jahrhundertealte Geschichte zwischen dem
russischen und ukrainischen Volke, die auf die Taufe der
Rus zurückgehe.
Taufe der „Rus“ 998 – zentrale Verbindung
Dieses Geschichtsbild begründet die Gemeinsamkeit zwischen
Patriarchen und Präsident. Unter Großfürst Wladimir
I. fand im Jahr 998 die Taufe der „Rus“ in Kiew
und anderen Städten statt. Sie nahmen den griechischkatholisch
orthodoxen Glauben an und nannten sich
Prawoslawniji, das heißt Rechtgläubige. Wobei „Rus“ die
zu dieser Zeit in Kiew herrschende Dynastie bezeichnete
und nicht mit dem später entstandenen Russland identisch
ist. So gesehen ist Kiew geographisch und geistlich
eine zentrale Verbindung für die – übrigens erst 1943 bei
der Wiederherstellung des Patriarchates durch Stalin so
titulierte – Russisch-Orthodoxe Kirche.
Die Großfürsten und später die Zaren hatten auch in
kirchlichen Fragen das Sagen. Diese Staat-Kirche-Beziehung
ist vergleichbar mit der im Byzantinischen Reich
unter Konstantin.
Das Prinzip der „symphonia“
Es ist die das Prinzip der „symphonia“, wie es auch heute
Patriarch Kyrill vorlebt. Die Metropoliten bzw. Patriarchen
stützten den Staat und der Zar gewährte der Kirche
freie Hand, die sich so ungestört entwickeln konnte. Unter
26
Zar Peter I. dem Großen (1689 – 1725) band sich die Kirche
noch enger an den Staat. Der Zar ließ den 1700 frei
gewordenen Patriarchen Stuhl von Moskau unbesetzt. An
dessen Stelle trat der vom Zaren berufene „Heilige Synod“
als höchster Würdenträger der Kirche.
Seit der Zeit Peters des Großen machten sich in der russischen
Kirche protestantische Einflüsse stark bemerkbar.
Um Missstände abzubauen, zog Katharina II. die Große
das Kirchengut ein und sorgte selbst für die Besoldung
der orthodoxen Geistlichkeit.
Entfremdung von intellektuellen Eliten
In den folgenden Jahrhunderten unterlag die orthodoxe
Kirche in Russland einer völligen Kontrolle durch den
Staat und entfremdete sich dabei fast völlig den intellektuellen
Eliten. Dieser Zustand hielt bis zur Februarrevolution
von 1917 an, in der das Kaisertum abgeschafft wurde
und es auch keine Patriarchen mehr gab. Fortan wurde die
Kirche als Relikt aus früherer Zeit und als Unterstützerin
des Klassenfeindes verstanden und erbarmungslos verfolgt.
Unter dem fanatischen Kirchenhasser Lenin und
dann unter dem stalinistischen Terror kam es zu massenhaften
Verhaftungen. Millionen Russen verschwanden für
immer in sibirischen Gulags.
Die Rettung vor ihrer endgültigen Vernichtung brachte
ausgerechnet der Überfall der deutschen Wehrmacht auf
die UdSSR 1941. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen
erklärte sich die russische Kirche mit dem Staat
solidarisch und rief die Gläubigen zur Verteidigung des
Vaterlandes auf. Nach dem Krieg konnte die Kirche unter
27
großen Einschränkungen existieren. Nur dem Staat gegenüber
loyale Priester gelangten in Führungspositionen
und Bischöfe rühmten bei Auslandsbesuchen die Religionsfreiheit
in der UdSSR. Man entschied sich lieber für
Zusammenarbeit mit dem Staat als für eine offene Konfrontation.
Garant für traditionelle Werte
Dieser Zustand hielt sich bis zur Perestrojka unter Staatsund
Parteichef Michael Gorbatschow in den 80er Jahren
des vorigen Jahrhunderts. Langsam fand die Kirche wieder
ihre Rolle in der russischen Gesellschaft.
Unter Kaisern, Zaren und Parteisekretären konnte die
Kirche ein willfähriges Werkzeug des Staates oder der
Partei werden. Dieses von der Geschichte übernommene
Modell der „symphonia“ zeigt klar, die bis heute noch
nicht aufgegebene Abhängigkeit der Russisch-Orthodoxen
Kirche vom jeweiligen politischen Regime hat eine
lange geheiligte Tradition.
Wenn sich heute Wladimir Putin gerne öffentlich bekreuzigt,
weiß er genau, was der gläubige Russe gerne sieht.
Der Kremlherr braucht die Kirche als Garant für traditionelle
Werte, wie er sie versteht. Da passt es gut ins Bild,
dass sich Putin und Kyrill gegenseitig Orden verliehen
und die Kirche natürlich Putin bei den Präsidentenwahlen
unterstützte.
Für eine Eigenständigkeit der Ukraine haben weder Putin
noch der Patriarch Verständnis, daher auch der heftige
Widerstand gegen eine eigenständige orthodoxe Kirche
in der Ukraine.
28
Konfrontation mit Konstantinopel
Das 1992 nach der Unabhängigkeit des Landes gegründete
„Kiewer Patriarchat“ wurde zunächst von keiner
anderen orthodoxen Kirche anerkannt. Moskau verlieh
der „konkurrierenden“ orthodoxen Kirche (UOK) einen
autonomen Status. Kyrill vermied es allerdings, die Krim-
Diözese aus der UOK herauszulösen. „Die Grenzen der
Kirche werden nicht von politischen Präferenzen, ethnischen
Unterschieden oder gar Staatsgrenzen bestimmt“
erklärte der „Heilige Synod“ – die Kirchenleitung des
Moskauer Patriarchats 2014. „Die Kirche sei und bleibe
ein unveräußerlicher Teil unserer einheitlichen und multinationalen
Kirche“.
Für Moskau war es eine große Provokation, dass Patriarch
Bartholomäus I. von Konstantinopel als Ehrenoberhaupt
der Orthodoxie auf jahrelanges Bitten der Regierenden
in Kiew die Gründung einer unabhängigen orthodoxen
Kirche der Ukraine (OUK) auf den Weg brachte, der sich
die UOK nicht anschloss. Kyrill kündigte daraufhin umgehend
die kirchliche Gemeinschaft mit Konstantinopel
sowie mit allen Kirchen auf, die die neue autokephale Kirche
anerkannten.
In der Ukraine hat Kyrill bereits in den vergangenen
Jahren viel Vertrauen verspielt, und dies dürfte sich angesichts
seiner jetzigen Haltung noch verstärken. Selbst
die zu seinem Patriarchat gehörende UOK unter Metropolit
Onofri hat sich unmissverständlich zur „staatlichen
Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine“ bekannt.
Ihre Bitte an Kyrill, sein hochpriesterliches Wort
zu sprechen, damit das brudermörderische Blutvergießen
29
auf ukrainischem Boden aufhört, und Putin aufzufordern,
den Krieg zu beenden, blieb bisher unerhört. Der staatshörige
Kyrill dürfte seinem Ziel der kirchlichen Einheit
von Moskau bis Kiew einen Bärendienst erwiesen haben.
Quellen:
Andreas Kappeler „Ungleiche Brüder Russen und Ukrainer vom Mittelalter
bis zur Gegenwart“
Kathpress
30
Russischer Kolonialismus
Wenn der Geschichtslehrer Wladimir Putin dem „Westen“
einen fünfhundert Jahre währenden Kolonialismus
vorwirft, leugnet er etwas ganz Entscheidendes: Russland
ist in Wirklichkeit Teil dieses Westens, nur eine Kolonialmacht
unter vielen. Die Eroberungen der Russen lagen
freilich nicht in Übersee, sondern auf eurasischem Gebiet,
Jahrhunderte von Gewalt, Ausbeutung und Assimilation,
wie wenige Beispiele zeigen.
Bei der Eroberung Sibiriens im 16. und 17. Jahrhundert
widersetzten sich Tataren und Jakuten erfolglos der russischen
Expansion. Heute lebt Russland zum Großteil vom
Öl und Gas aus diesem gestohlenen Land. Das seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts russische Territorium in Alaska
verkauften die Zaren gar 1867 an die USA. Der Nordkaukasus
und die Schwarzmeerküste um Sotschi wurden
hemmungslos russifiziert, hunderttausende Tscherkessen
deportiert.
Wie selbstverständlich war das Zarenreich im 19. Jahrhundert
Mitglied des internationalen Kolonialismus Instituts
in Brüssel. Russische und ukrainische Bauern wurden
nach Zentralasien umgesiedelt, die ganze Region fiel bald
Moskau in die Hände. Die Unabhängigkeitsbestrebungen
der Ukraine nach dem Ende der Zarenherrschaft 1917
gingen gewaltsam unter, die Bolschewiken holten sich
dann gleich das unabhängige Georgien. Zehntausende
Esten, Letten und Litauer fielen der Deportation zum
Opfer, die Länder wurden russifiziert. Und – wie sieht
Moldawiens Zukunft aus?
31
Auch Freund Xi in Peking dürfte sich irgendwann erinnern,
dass große Teile der russischen Pazifikregion einst
chinesisch kontrolliert waren. Erst nach dem Zweiten
Opiumkrieg fielen sie an Russland. Wenn Putin und seine
Regimefiguren regelmäßig vom Selbstbestimmungsrecht
der Völker reden, ist das purer Zynismus.
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Historische Naivität
Die gescheiterte Russland-Politik des Westens der letzten
Jahrzehnte ist auch in Deutschland erdacht worden. Niemand
hat so oft mit Putin verhandelt wie Angela Merkel
und ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Beide
haben Wladimir Putin nie einen „lupenreinen Demokraten“
genannt, sie waren nie korrupt und sie haben keine
Millionen von seinem Gas-Imperium kassiert, wie ein
Gerhard Schröder. Aber ihre und damit die Russland-
Politik des Westens ist mit dem Überfall Putins auf die
Ukraine historisch gescheitert an der Naivität, einem notorischen
Lügner und Geschichtsverdreher zu glauben.
Putin hat seine revanchistische Blut-und-Boden-Ideologie
jahrelang verfolgt, nur wollte sie im Westen niemand
wahrhaben. Er strangulierte nicht nur in seinem Russland
Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde, sondern
auch in Belarus und in den Autokratien des Kaukasus.
In Syrien halten seine Fassbomben auf Zivilisten den
Schlächter Assad immer noch im Amt.
Doch nicht nur das unbedarfte Europa hat Fehler gemacht.
Barack Obama hatte bald die Lust verloren, weiter
mit der „Regionalmacht“ Russland zu reden, nachdem ihn
Putin wieder und wieder belogen hatte: um die Ukraine
könnten und sollten sich fortan die Europäer selbst kümmern.
Diese Europäer waren damals Angela Merkel und
Francoise Holland. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.
Das Minsker Abkommen, das Putin jetzt in der Luft zerriss,
war der Versuch, einen Mann, der das Völkerrecht
mit Füßen tritt, in einen Rechtsprozess zu ziehen und so
33
einen Wortbrüchigen beim Wort zu nehmen. Die Separatisten
sollten regionale Wahlen und ein Sonderstatut
bekommen, sobald Waffenruhe herrsche. Die Ukraine
unterschrieb nur, weil sie schon damals Putins Revolver
an der Schläfe hatte.
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Hunger als Kriegswaffe
Hunger war schon immer ein mitleidloser Begleiter des
Krieges, vom Altertum bis heute. Mariupol erinnert an die
wohl grausamste Belagerung der Geschichte, die Blockade
Leningrads durch Nazi-Deutschland. Ihr fielen 1,1 Millionen
Menschen zum Opfer, von denen etwa 90 Prozent
verhungerten. Es ist bezeichnend, dass eine der letzten
Überlebenden jener Belagerung nun zu denen gehört, die
gegen Putins Krieg demonstrieren – in eben der Stadt, die
heute wieder St. Petersburg heißt.
Was Mariupol erleben musste, ruft in der Ukraine aber
auch furchtbare Erinnerungen wach: an die von Stalin in
den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgelöste
Hungersnot, die das Volk zerstören sollte. Damals wie
in diesen Tagen: es gibt kein Wasser mehr, Medikamente
fehlen, weil alle Krankenhäuser zerbombt sind. Die Nahrungsmittelversorgung
ist völlig zusammengebrochen.
Das Aushungern Mariupols rührt an historische Traumata
der Ukrainer aus eben dieser Zeit der sowjetischen Besatzung.
Moskau führte damals eine systematische Hungerkrise
in der besetzten Ukraine herbei. Der sogenannte
Holodomor löschte laut Schätzungen etwa vier Millionen
Menschen aus, es waren ungefähr 13 Prozent der damaligen
ukrainischen Bevölkerung. Stalin wollte den Widerstandswillen
der Ukrainer brechen und die Bauern bestrafen,
die sich der Zwangskollektivierung widersetzt hatten.
Die Geschichte wiederholt sich in dämonischen Parallelen.
Stalin wollte mit seiner „Russifizierung“ die kulturelle
Elite der Ukraine ausschalten, um die Vormacht der russi35
schen Kultur und Sprache zu sichern. Angriffe der Armee
Putins auf Museen oder die Zerstörung des alten Theaters
in Mariupol sind darauf ausgerichtet, Leuchttürme der
ukrainischen Kultur zu vernichten.
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Versagen des Abendlandes
Der ums Überleben kämpfenden Ukraine gehören in
diesen Kriegstagen Schlagzeilen und Mitgefühl. Zurecht!
Doch, was ist mit den geschundenen Ländern des Morgenlandes
wie Afghanistan, Syrien, Irak oder Jemen? Der
Westen ist mit seiner rigiden Politik gescheitert, hat sich
schmählich verabschiedet und Flüchtlingsströme hinterlassen.
Schon vor hundert Jahren als die Kolonialmächte Frankreich
und England große Teile der arabischen Welt unter
sich aufteilten, war zu sehen, dass das Abendland das
Morgenland nie verstanden hat. Die Region sollte mithilfe
nationaler Grenzen stabilisiert werden. Unwissen
über Kultur, Tradition und Glauben gepaart mit latenter
Hochnäsigkeit führte zur Bevormundung mit zum Teil
katastrophalen Folgen. Die Taliban hatten leichtes Spiel.
Die Loyalität der Menschen gilt weiterhin den Stammesclans
und Ethnien. Glaubensgruppen wie Sunniten, Alawiten
oder Kurden brechen auseinander. Um Demokratien
zu installieren, wurde eher auf Kampfflugzeuge, Panzer
oder direkte Befehle aus dem Weißen Haus gesetzt, statt
Bildungssysteme zu reformieren, ohne patriarchalische
Strukturen aufzubrechen und ohne Aufklärung zur Mündigkeit.
Den Islam wollte man nie wirklich verstehen.
Die Religion bleibt wichtigste Instanz. Meinungsfreiheit
birgt das Risiko der Blasphemie und wird rigoros kontrolliert,
die Freiheit der Frauen massiv eingeschränkt. Eine
Demokratie, wie wir sie verstehen, will nur eine Minderheit.
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Menschenrechte und Freiheit müssen Exportgedanken
Richtung Morgenland bleiben. Nur mündige Menschen
können dort Veränderung schaffen. Der Verzicht auf Teile
ihrer alten „Kultur“ zum Wohl einer neuen, stabileren
und besseren Lebensform muss der Antrieb sein. Dann
bleiben die Menschen auch in ihrer Heimat.
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Aggression zielt auf alle
Wir stehen da in unserer halbwegs abgesicherten Welt,
die gerade dabei ist, eine Pandemie in den Griff zu bekommen,
und suchen nach Erklärungen: denn eine Formel,
wie einer blindwütigen Aggression zu begegnen ist,
haben wir nicht. Plötzlich erkennen wir, Europa war nach
1945 noch nie so ungeschützt wie in diesen Tagen. Diese
Aggression geht nicht von einem Land aus, sondern von
einem Denksystem, das Demokratie genauso hasst wie
Freiheit und das jegliche Menschenwürde missachtet.
Die russischen Attacken gegenüber der Ukraine zielen
natürlich auch auf unsere freiheitliche Gesellschaft.
Es tangiert uns sehr wohl, Länder im Umkreis unserer
europäischen Schutzzone plötzlich als Vasallen und Marionetten
degradiert zu sehen, deren Fäden von Moskau
aus gezogen werden.
Einst fungierten finstere Marxisten und kommunistische
Parteien in Westeuropa als trojanisches Pferd Moskaus,
heute sind es in ganz Europa autoritäre und rechtskonservative
Ideologen, die offen ihre Sympathien für den
Kriegsverbrecher Putin bekunden und denselben bei jeder
Gelegenheit hofieren.
Die freie Welt hat sowohl 2008 beim Angriff der russischen
Armee auf Georgien als auch 2014 bei der Besetzung
der Krim und Teilen der Ostukraine keine wirksame
Sprache gegen diese Aggression gefunden. Wenn es
schlimm kommt, werden wir wieder – wie damals im Prager
Frühling 1968 – mit Tränen in den Augen zuschauen,
wie russische Panzer durch die Ukraine rollen. Man sollte
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sich die düsteren Sätze Henry Kissingers vergegenwärtigen:
Wenn der Frieden, gedacht als Verhinderung des
Krieges, oberstes Ziel einer Staatengruppe ist, hängt das
Schicksal des internationalen Systems vom rücksichtslosesten
Mitglied der internationalen Gemeinschaft ab.
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Freiheit und Sklaverei
Im Lauf der Geschichte hat es sich oftmals wiederholt,
dass die Brutalität gewaltiger Armeen durch den menschlichen
Freiheitswillen gedemütigt werden kann. Heute
klingen die Thermophylen wie eine spannende Sage, aber
es geschah wirklich, dass eine Handvoll Spartaner dem
riesigen Perserheer die Stirn bot. In der Ukraine wiederholt
sich gerade dieser ewige Krieg zwischen Freiheit, Demokratie
und Sklaverei.
Europa und nahezu die ganze freie Welt, so scheint es,
befinden sich in diesen Tagen in der gleichen Situation
wie damals die griechischen Stadtstaaten der Antike. Eine
Invasion der enormen persischen Armee hat sie wieder
vereint und in ihnen das Bewusstsein ihrer gemeinsamen
Werte und Ideale gestärkt.
Die Thermophylen befinden sich jetzt in der Ukraine und
der Heroismus der leidenden Bevölkerung inspiriert und
verbindet. Derart hoffnungslose Kräfteverhältnisse schaffen
natürlich die Voraussetzung für Heldentum. Auch
Kiew könnte fallen und die Ukraine erobert werden, Selenskyi
und seine unerschrockenen Kämpfer sind definitiv
zum Mythos geworden.
Wenn wir den Sturm auf ukrainische Städte verfolgen,
blicken wir durch den Nebel der Geschichte auf diese 300
Spartaner, die einem immensen persischen Sklavenheer
trotzten. Auch Putins Imperium ist ein Sklavenhalterstaat,
der mit brutaler Hand regiert wird. Ebenso wie es
die ehemalige Sowjetunion war, in der der Kremlherr ja
beheimatet war und die er wieder errichten will. Es geht
41
nicht um das russische Volk, denn dieses hat er zuerst
unterworfen.
Putins Krieg weist jedoch eine historisch noch nie dagewesene,
beklemmende Einzigartigkeit auf. Es ist das erste
Mal, dass sich ein Mensch mit zitterndem Finger dem
roten Knopf der atomaren Apokalypse nähern kann.
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Zelebrieren der Intoleranz
Wenn in Schweden oder Dänemark der Koran geschändet
und verbrannt wird, ist das kein legitimer Protest, sondern
symbolische Gewalt. In Europa hat zwar jeder das Recht,
jede beliebige Religion anzuerkennen oder den Kopf über
sie zu schütteln, wofür manche auch fleißig Vorlagen liefern.
Wer aber den Koran mit Füßen tritt, setzt sich nicht
kritisch mit seinen Inhalten auseinander, es geht ihm nur
um Hass. Eine neue Art des Fundamentalismus.
300 Jahre nach der Koranverbrennung in Spanien legte
Heinrich Heine in seinem Drama „Almansor“ dem zum
Christentum zwangskonvertierten Hassan die Worte in
den Mund: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt
man auch am Ende Menschen“. Das Feuer richtet sich nie
bloß gegen Bücher und ihre Gedanken. Es richtet sich
tatsächlich
gegen diejenigen, für die diese Bücher heilig
sind. So war es in Spanien nach der Reconquista, als Muslime
und Juden zwischen Taufe und Tod oder Vertreibung
wählen mussten. So war das auch in Deutschland, als im
Frühjahr 1933 Zehntausende Werke als „undeutsch“ verfemter
Autoren ins Feuer flogen. Eine Kulturbarbarei,
die zum Auftakt des Menschheitsverbrechens Holocaust
wurde. So ist es heute in Indien, wo Hindus Bibeln verbrennen.
Das Feuer ist das Gegenteil eines Arguments. Es ist das
Zelebrieren der Intoleranz und Propaganda für symbolische
Gewalt. Diese rechtsradikalen Täter dürften weder
Koran oder gar die Bibel gelesen haben. Es mag sein, dass
dieser Irrsinn in Schweden und Dänemark unter dem
43
Deckmantel der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit
legal ist, bei uns ist er es gottlob nicht. Der einzige Zweck
dieses nihilistischen Kults zeichenhafter Gewalt besteht
darin, physische Gegengewalt zu provozieren.
44
Die Welt, in der wir leben
Selbstverständlichkeiten mussten wir in den vergangenen
Jahren viele über Bord werfen. Schon ab dem verhängnisvollen
Jahr 2008 ließen die Banken ihre Schulden vom
Staat bezahlen, der Euro wurde zur Haftungsgemeinschaft
und verliert nun inflationär an Wert. Begraben mussten
wir im Lauf der Zeit die Illusion einer Welt, die die Medizin
im Griff hat und uns Pandemien nie treffen werden.
Aufgeben mussten wir unsere bürgerliche Unabhängigkeit.
Reisen und Geselligkeit fielen Corona zum Opfer,
lästige Risiken und Nebenwirkungen drücken immer
noch das Zusammenleben.
Bis zum Februar 2022 haben wir offensichtlich in einer
Scheinwelt gelebt und geglaubt, dass im behaglichen
Nachkriegseuropa
ohnehin keine Nation eine andere
überfällt.
Von einem Tag auf den anderen werden wir
konfrontiert mit grauenvollen Nachrichten aus unserem
europäischen Nachbarland Ukraine: tausende Tote, zerstörte
Städte, verwüstete Landstriche, Millionen Vertriebene
und flüchtende Menschen.
Soziale Gerechtigkeit, die Gesundheit, der Frieden, die
Völkerfreundschaft – vieles verschüttet, gar verloren?
Worauf lässt sich in diesem Schmelztiegel falscher Gewissheiten
überhaupt noch bauen? Lasch nehmen wir
zur Kenntnis, wie die Zahl der Angriffe und Beschimpfungen
gegen jüdische Mitbürger zunimmt. Wird sich
der beschworene Klimaabgrund wie Armageddon auftun?
Eines ist gewiss: Je länger wir mit der Reduzierung
der Emissionen warten, desto schlimmer werden die
45
Auswirkungen in der Welt, in der wir leben.
Der verstörende Blick in die amerikanische Seele liefert
der Welt die pessimistische Konstante. Nach jedem
Amoklauf und Terroranschlag mit vielen Opfern – so lautet
die Faustregel – boomen regelmäßig die Aktienkurse
amerikanischer Waffenhersteller.
46
Grenzen der Empathie
Je länger dieser Krieg wüte, desto mehr ermüde er den
Westen, meinte ein ukrainischer Diplomat dieser Tage im
Deutschen Fernsehen und er fürchte die Gleichgültigkeit
der Menschen. Eigentlich gibt es ja auch kein einziges gutes
Argument dafür, nicht kriegsmüde zu sein, denn was
sollte irgendwie akzeptabel daran sein, dass man in diesen
Jahren immer noch vor Raketen, Panzern und einer
mörderischen Soldateska Furcht haben muss? Was sagt
es über diesen enthemmten Kriegsherren im Kreml aus,
der Städte, Dörfer und Kulturgut zerstören lässt und den
Menschen das bisschen, was sie sich erarbeitet haben, zerbombt?
Die Männer, Frauen und Kinder in der Ukraine sind
unendlich
kriegsmüder als wir. Gerade noch haben sie
ein normales Leben geführt, seit Monaten stehen sie an
der Front und müssen sich die Durchhalteparolen ihres
Präsidenten anhören. Dagegen ist unsere private Kriegsmüdigkeit
geradezu ein Luxusproblem. Nach (vorerst)
überstandener Corona-Pandemie stören uns die täglichen
Kriegsberichte und Schreckensbilder, denn hierzulande
ist so etwas wie „Normalität“ in den Alltag zurückgekehrt.
Kein Wunder, dass dieser aufgezwungene Krieg allmählich
aus den Schlagzeilen zu verschwinden droht und zur
Routineangelegenheit wird, denn plötzlich geht es uns um
Gaslieferung, Energiepreise, Inflation, den Preis an der
Tankstelle, die Brotpreise, den Urlaub und all die anderen
von Putin ausgelösten Verwerfungen. Täglich wird es
schwieriger, uns die Opfer abzuverlangen, die es dringend
braucht, um Sanktionen zu finanzieren.
47
Den Ukrainern gleichsam die Kapitulation zu empfehlen,
wie es eine selbstgerechte Gruppe Intellektueller um
Alice Schwarzer getan hat, war jedoch keine moralische
Großtat, sondern verständnislos, ein Freibrief für den
Aggressor.
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Keine moralische Instanz
Wohin steuert bloß die UNO? Nichts davon ist Wirklichkeit
geworden, was sich Franklin Delano Roosevelt der
Gründervater der Vereinten Nationen in seinen Idealen
vorgestellt hat: Demokratien aller Himmelsrichtungen
sollten in einem Weltparlament die gemeinsamen Geschicke
ihrer Außenpolitik bestimmen. Der verbindende
Gedanke ist jedoch längst nicht mehr die Demokratie.
Es hat den Anschein, dass heute in erster Linie Autokraten
und Diktatoren in New York zusammenkommen, um
gegen den Westen zu agitieren und das westliche Wertesystem
zu schwächen. Ihr Hass auf Israel, der einzigen
Demokratie im Nahen Osten ist dafür ein Beispiel. Während
die Mehrheit der Staaten Israels Politik feindselig
gegenübersteht, gehören die Sympathien offen den Palästinensern.
Dass die Terrororganisation Hamas längst die
Bevölkerung im Gazastreifen unter Geiselhaft hält, wird
übergangen.
Wenn auch der Staat Israel auf den Teilungsplan der UN
von 1947 zurückzuführen ist, ist die Generalversammlung
der Vereinten Nationen seit dem Sechstagekrieg
von 1967 zu einem Forum des Israelhasses geworden. Es
ist ein Gemisch aus altherkömmlichem Judenhass, Neid
und Wut gegen den Westen und die Vorstellung, dass der
Zionismus die Erbsünde des Kolonialismus in sich trage.
Zweierlei Maß ist die Folge. Während der Iran mordet
und die Gesellschaft quält wie er will, während China die
Uiguren in Konzentrationslagern verkommen lässt und
die arabischen Ölmultis nach wie vor Sklaven halten, zeigt
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sich der UN-Menschenrechtsausschuss halbherzig reagierend
immer milde.
Seit je ist das Völkerrecht eine Knetmasse in den Händen
der Staaten und wird immer nur dann angerufen, wenn es
sich gegen den gemeinsamen Feind verwenden lässt. Die
großen Staaten haben davon noch nie etwas befürchten
müssen. Sollte es doch einmal für sie brenzlig werden,
stimmt eben eines der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat
gegen eine Verurteilung.
Wenn sich der Sicherheitsrat seit Jahrzehnten selbst
blockiert, liegt das aber nicht am Vetorecht seiner fünf
ständigen Mitglieder. Hätte man dieses Vetorecht aufgehoben,
dann wäre das antidemokratische und antiwestliche
Agitieren in der UNO nicht mehr einzudämmen.
Der Sicherheitsrat ist gelähmt, weil die Mehrheit seiner
Mitglieder immer im Sinn hat, die westlichen Grundsätze
der UN-Charta außer Kraft zu setzen.
So ist die UNO dazu verurteilt, ein mehrsprachiger Verein
der Unverbindlichkeiten zu bleiben. Vielleicht sollte man
es so sehen: Allein das Gespräch miteinander kann nützlich
sein. Moralische Instanz ist die UNO jedenfalls keine.
50
ausweglos
ich bin
der war
und wurde
so werd
im leben selbst
ich wirklich
freuen lieben
schmerz klage
hofen
zukunft wo
der weg
h. oeggl
51
Politik – Demokratie
53
Gute alte Zeit vorbei
Der 24. Februar 2022 war der Tag, an dem endlich der
Schleier vor unseren Augen weggezogen wurde, denn die
Welt hatte sich schon seit mehr als zwei Jahrzehnte vor
dem Ukrainekrieg verändert. Von der guten alten Zeit zu
schwärmen, können sich jetzt nur noch Populisten leisten,
alle anderen müssen Gegenwart und Zukunft gestalten.
Grundlage unserer Freiheit ist es, den Menschen als unverwechselbares
Individuum mit unantastbarer Würde
zu sehen. Das unterscheidet uns von den Taliban, für
die Frauen rechtlos sind, von Putins Russland, wo junge
Männer bloß als Menschenmaterial zum Verheizen an
der Front verwendet werden, von China, das die Bürger
überwacht und Abweichler gnadenlos bestraft, oder vom
Iran, wo greise Mullahs Frauen töten, allein weil sie offene
Haare tragen.
Das Fundament des Westens, mit dem unsere Identität
verbunden
ist, ist die Aufklärung. Universell geltende
Menschenrechte,
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
prägten
nach den Erfahrungen verheerender Weltkriege
und des Holocaust die internationale und westeuropäische
Nachkriegsordnung. Ebendiese wird heute von Russland,
China, dem Iran und anderen in Frage gestellt.
Der Westen muss seine Werte leben, darf aber jenen, die
sie nicht teilen, nicht im Wege stehen. Wir sollten das
Gespräch suchen, nicht naiv, sondern deutlich mit klaren
eigenen Positionen und den Verweis auf rote Linien. Es
sind sehr große Aufgaben, denen sich westliche Politiker
künftig zu stellen haben. Fragen von Leben und Tod
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wie beim Klimawandel, Fragen von Krieg und Frieden,
Fragen von Freiheit und Unterdrückung und vor allem
Fragen nach dem Gesicht einer zukünftigen internationalen
Ordnung. Mit Mechanismen des gewohnten Politikbetriebes
sind sie nicht zu beantworten.
55
Die politische Wahrheit
Das Wort Lüge hat in der Politik einen Kursverlust erlitten.
Ein leichtfüßiger Umgang mit der Wahrheit ist heute
längst salonfähig geworden. Demokratisch gewählte Politiker
und Abgeordnete können scheinbar behaupten was
sie wollen, ohne sich an die Tatsachen zu halten, geschweige
denn dafür mit Konsequenzen rechnen zu müssen.
Dem politischen Gegner wird unverblümt vorgeworfen,
ein Lügengebäude zu errichten, Fakten zu leugnen und
die Bevölkerung anzulügen.
Wenn durch Lügen eine gemeinsame Vertrauensbasis
zerstört ist, ist eine politische Zusammenarbeit schwer
möglich und die Menschen im Land wissen überhaupt
nicht mehr, auf wen sie sich verlassen können. Eine harte,
Missstände aufdeckende Opposition ist für das Verständnis
unserer Demokratie wichtig und unerlässlich.
Gefährlich wird es dann, wenn oppositionelle Wortführer
(weibliche inbegriffen) sich einbilden, allein den Schlüssel
der Wahrheit zu haben. Darin entsteht jenes typisch manipulative
Einbahnverhältnis, das die Menschen irritiert
und sie politisch lustlos macht.
Auch Donald Trump, Großmeister der Lüge, setzte diese
ein, um den Gegner zu diskreditieren. Er hielt es unbewusst
mit Niccoló Machiavelli und Friedrich Nietzsche.
Für den einen ist die Lüge ein legitimes Mittel zur Machtausübung
und für den guten Zweck, für den anderen ist
die Lüge göttlich. Dagegen unterschieden die alten Römer
und ihre Politiker sehr wohl zwischen Irrtum und Lüge.
Sie verurteilten die Lüge sogar dann, wenn das öffentliche
56
Wohl eine solche verlangen würde. Der in die Rechtsgeschichte
eingegangene Begriff der arglistigen Täuschung
ist demnach eine Leistung des römischen Geistes. Ohne
Verpflichtung zur Wahrheit fehlt die Achtung vor der
Würde des politischen Gegners.
57
Abgesang des Wertesystems
Es scheint, dass es mit dem Westen und seinen gern zitierten
hehren Werten nicht mehr weit her ist. Die desaströse
Vorstellung der Amerikaner beim chaotischen Abzug aus
Afghanistan passt genau so in dieses Bild, wie das Signum
einer verfluchten Mission, als einer der letzten ihrer
Drohnenschläge nicht Terroristen traf, sondern Kinder.
Ein derartiges Versagen auf allen Ebenen in den USA und
in vielen Ländern Europas wirft zwangsläufig die Frage
auf, in welchem Zustand sich die „westliche Wertegemeinschaft“
eigentlich befindet. Was ist daraus geworden, als
man sich nach dem Krieg aus ethischer Verpflichtung
heraus
auf Werte eingeschworen hatte, deren Fundamente
unantastbare Rechtsstaatlichkeit, Freiheits- und
Menschenrechte
sowie Menschenwürde sind? Mittlerweile
sind in manchen Demokratien politische Doppelmoral,
Populismus und Korruption drauf und dran, diese
geistigen Dimensionen zu unterminieren. Zweifelhafte
politische Eliten werden so urplötzlich mittels manipulierter
Medien- und Informationssteuerung zu anrüchigen
Wahloligarchen.
Doch Länder wie China, Russland oder die Türkei, die
den Irrgang westlicher Demokratien lustvoll miterleben,
müssen erst die angehäuften Untaten verachteter
Freiheits- und Menschenrechte vor der eigenen Türe
kehren. Auch der Level an Korruption ist in diesen Ländern
immer noch deutlich höher als im Westen. Das ist
kein moralischer Fingerzeig, aber letztendlich ein Ausweis
der Überlegenheit des demokratischen Systems, für
58
das Leistung nach wie vor wichtiges Prinzip der freien
Gesellschaft ist. Damit dieser „Westen“ nicht länger als
Synonym für eine abgelaufene Epoche steht, bedarf es einiger
Kraftanstrengung, um aus der selbstverschuldeten
Identitätsnot herauszufinden.
59
Osteuropa tickt anders
Bei ihrem EU-Beitritt 2004 hatten sich die osteuropäischen
Staaten verpflichtet, den „Besitzstand der EU“, den
Acquis communautaire, zu übernehmen. Dass dieser Pluralismus
und Freiheit verbindlich vorschreibt, wird von
manchen ignoriert. So haben Polen und Ungarn auffällige
Probleme mit gelebter Demokratie. Warschau provoziert
mit seiner Rechtsstaatlichkeit, Budapest verabschiedete
Gesetze, die tiefe Einschränkungen zum Thema Sexualität
mit sich bringen. Beide scheinen geradezu darauf zu warten,
bis die westlichen EU-Mitglieder empört aufschreien,
um sich dann dem eigenen Volk als Widerstandskämpfer
gegen die EU zu beweisen. Sie gehen bis ans Äußerste,
dann rudern sie zurück. Das einzige Druckmittel der
Kommission in Brüssel ist bislang das Geld, das zurückbehalten
wird.
Es gibt auch eine zweite Seite: Die westlichen alten EUMitglieder
mitsamt der Brüsseler Kommission leiden,
so der französische Politologe Jacques Rupnik, an einem
„Eigentümerkomplex“. Ihre Vorstellung einer liberalen
Gesellschaft ist die einzig zulässige Form der Demokratie.
Die Westeuropäer sollen sich jedoch hüten, die Eigenheiten
und Entwicklungsstufen anderer Staaten zu missachten.
Sich als Missionare aufspielen, ist auch wenig hilfreich.
Jeder osteuropäische Staat braucht seine Zeit, um
sich in der Europäischen Gemeinschaft zurechtzufinden.
Kurz vor seinem Tod vor 27 Jahren hat der Philosoph
Karl Popper die Europäer auf die unterschiedlichen Prägungen
zwischen West- und Osteuropa hingewiesen. Die
60
ehemaligen Nationen des Ostblocks hätten nicht dieselben
demokratischen Traditionen wie die westlichen. Es
werde 50 Jahre dauern, bis der Freigeist und Liberalismus
der westlichen Demokratien in Osteuropa übernommen
und gelebt würden.
61
Der Brexit hat auch sein Gutes
Die Europäische Union tut sich bekanntlich schwer. Sie
hat zwar eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame
Fiskalpolitik, sie hat die Größe und geographischen
Ausmaße eines Imperiums, doch die geopolitische Relevanz,
um sich in der Welt als erster Player zu offenbaren,
fehlt ihr. Das größte Problem ist jedoch das Demokratieund
Entscheidungsdefizit. Und dennoch: einer Umfrage
des „Pew Research Center“ – ein nichtstaatliches Meinungsforschungsinstitut
mit Sitz in Washington – zufolge,
bekunden 72 Prozent der Europäer ihre „Zweckliebe“ zur
Europäischen Union. Die zwischen 40 und 50 Prozent in
Österreich sind nicht zuletzt populistischer Agitation zuzuschreiben.
In keinem Land hätte ein Referendum nach
Brexit-Vorbild eine Mehrheit.
Apropos Brexit. Er hat auch seine guten Seiten, wie der
alte Kontinent (vielleicht etwas schadenfroh) registrieren
kann: wie schlecht er nämlich funktioniert. „Take back
Control!“ lautete die vollmundige Losung der Brexiteers.
Wir werden die Herrschaft über die Geschicke unseres
Landes den Bürokraten in Brüssel entreißen und unserem
Parlament im Westminster zurückgeben, hieß es. Befreit
von jeglichem EU-Papier- und Regelkram wollten sie die
Produktionskräfte entfesseln, die Insel sollte schlichtweg
ein Paradies und Schlaraffenland werden.
Allerdings, so richtig traute sich Boris Johnson nicht ran.
Nach zähem Hin und Her wurde der Steher Johnson abgesägt
und durch die smarte Liz Truss ersetzt. Sie verkündete,
kaum im Amt, das radikalste Steuersenkungspro62
gramm seit Margret Thatcher. Nach 49 Tagen war Truss
Geschichte. Großbritanniens Gläubiger, die von Steuersenkungen
nichts hielten, schickten mit der Verteuerung
ihrer Kredite die Premierministerin ins Ausgedinge.
Jetzt hat der indischstämmige Millionär Rishi Sunak das
Sagen in Westminster. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin
lehnt er Steuersenkungen für Spitzenverdiener ab.
Den Einkommensteuersatz für die niederen Einkommen
will er um vier Pozentpunkte senken. Sunak hatte von Anfang
an, mit den Problemen des Brexit zu kämpfen. Das
Gesundheitssystem ist veraltet, überall im Land fehlt es
an Ärzten, Krankenschwestern und Pflegepersonal. Die
horrenden Preise in den Lebensmittelläden treiben viele
Familien in die Armut. Die Zahl der Obdachlosen wächst.
Rishi Sunak hat noch keine Rezepte gefunden, wie er seine
Landsleute in eine bessere Zukunft nach dem Brexit
führen kann.
Die Zahl derjenigen, die von den Europagegnern hinters
Licht geführt werden, sinkt jedenfalls. Um Schritt zu halten,
haben Europas populistische Rechte die Losung vom
Verlassen der Europäischen Union aufgegeben. Sie reden
nur noch von Reform.
63
Risse im Gefüge der Demokratie
Seit der Aufklärung hat sich die liberale Demokratie im
Westen durchgesetzt. Es gehe nicht allein um die Unterdrückung
durch die Herrscher, sagt James Madison, einer
der Väter der amerikanischen Verfassung, sondern um
den Schutz des einen Teiles des Volkes gegen das Unrecht,
das ihm ein anderer zufügt. Und Montesquieu hat unserem
Westen im 18. Jahrhundert die „Dreifaltigkeit“ der
Gewaltenteilung verschrieben: „Wenn die Gerichtsbarkeit
nicht von Legislative und Exekutive getrennt wird, gibt es
keine Freiheit. Macht muss Macht konterkarieren!“ Dieses
massive Bollwerk wird flankiert durch den Rechtsstaat
mit den unveräußerlichen Rechten des Einzelnen, wie die
Freiheit von Gedanken und Rede.
Neuerdings ist das feine Gefüge dieser Demokratie allerdings
durcheinandergeraten. Zu verorten ist eine Bedrohung
von rechts und von links und im Populismus. Alle
miteinander propagieren einen Nationalismus vom jeweiligen
Gesichtspunkt aus. Die einen sind eher Putin-Versteher,
die anderen wiederum offene Gegner Amerikas
und der Nato. Innenpolitisch verwischen sich oft die
Grenzen. Die eine Partei will raus aus der EU, die Linken
etwa in Deutschland raus aus der Nato. Die rechten Parteien
in ganz Europa von Spanien bis Schweden schießen
gegen die Einwanderung, weil ihre Klientel offensichtlich
Job- und Fürsorgeverlust befürchtet.
Der griechische Gelehrte Polybios mahnte schon vor
mehr als 2000 Jahren, dass Demokratien sich wie alle
Herrschaftsformen in einem zwingenden Verfallsprozess
64
befänden. Das heißt für uns heute, wenn sie einmal das
Gemeinwohl nicht mehr im Blick hätten, würden sie irgendwann
durch eine autokratische Regierungsform abgelöst.
Wie richtig der Grieche mit seiner Prognose liegt,
zeigt sich am Verfallsprozess von illiberalen Demokratien
in Europa.
Noch schätzt die Mehrheit der Gesellschaft die Vorzüge
einer liberalen Demokratie. Das Leben in Freiheit, die
Meinungsfreiheit, gleiches Recht für alle vor dem Gesetz
und freie und geheime Wahlen sind den Menschen wichtig.
Dass manche Politiker abgekapselt in einer eigenen
Welt leben und vom hohen Ross aus auf die Bevölkerung
schauen, beschrieb schon Polybios als selbstzerstörerisch.
Der besorgniserregende Trend, dass den gewählten Demokratien
immer weniger Vertrauen entgegengebracht
wird, zeigt sich nicht nur in Europa, sondern rund um
den Erdball. Diese Probleme sind längst keine hausgemachten
europäischen, wie das Beispiel USA zeigt, wo
die Demokratie schon seit langem bröckelt. Das demokratisch
- republikanische Spektrum ist dort durch ein
demokratisch - autokratisches Spektrum ergänzt. Schon
mit Robert F. Kennedy und erst recht seit Donald Trump
stellten populistische Präsidentschaftskandidaten beider
Parteien die Staatsordnung des Landes infrage. Rechts wie
links erhielten immer mehr extremistische Züge und Ansichten
die Oberhand. Die politisch moderate Mitte wird
immer mehr zerrieben.
Ein Beispiel aus Lateinamerika. Der autokratisch regierende
Nayib Bukele aus El Salvador, das immer noch als
Demokratie fungiert, ist, wie jüngst eine Umfrage des
65
„Latinobarometer“ ergab, in 15 von 17 Staaten mit Abstand
der beliebteste Regierungschef dieser Regionen.
Dass der gute Mann zentrale Säulen des Rechtsstaates,
wie die Meinungsfreiheit aushöhlt und die Bevölkerung
stumm geschaltet hat, tut seiner Beliebtheit keinen Abbruch.
Er beendete die Bandengewalt und reduzierte die
Mordrate und traf dabei allerdings auch viele unschuldige
Menschen. Einkalkulierte Kollateralschäden, die man im
Guerillakrieg mit den Drogenbanden einfach hinzunehmen
hat. So wird die arme Bevölkerung gezwungen, über
seine rigorosen Methoden hinweggesehen.
Fazit: Wenn sich demokratisch gewählte Politiker längere
Zeit nicht um die zentralen Probleme der Bevölkerung
bemühen und diese ungelöst lassen, nimmt das demokratische
System Schaden. Auf lange Sicht kann keine noch
so scheinbar stabile Demokratie ohne kompetente Regierung
auskommen. Sie muss früher oder später scheitern.
66
Migration und Integration
Die europäische Migrations- und Asylpolitik rumpelt
trotz zahlreicher Sondertreffen vor sich hin. Das Dilemma:
Jeder macht was er will und jede Regierung vertritt
ihre eigene Wahrheit. Österreich reicht es jetzt. Sie nimmt
die EU in die Pflicht und fordert eine rigorose „Zurückweisungsrichtlinie“,
die helfen soll, Migranten aus sicheren
Herkunftsstaaten schnellstmöglich wieder abschieben
zu können.
Ob eine Abschottungspolitik unserem Land guttut, sei dahingestellt.
Keine Frage: Wir brauchen als rasant alterndes
Land mehr Einwanderung. Es bedarf einer dringenden
Neuorientierung, um qualifizierte Arbeitsmigranten als
Zielort zu binden. Wer jung ist, Sprachkenntnisse, Qualifikationen
oder Berufserfahrung nachweisen kann, soll
nach Österreich kommen und Arbeit suchen dürfen. Aber
auch Flüchtlingen, die bereits im Lande sind, muss der
Arbeitsmarkt geöffnet werden. Sie harren in ihren Unterkünften
aus und wollen arbeiten.
Die Kanadier machen es vor. Sie kalkulieren kühl, wer
dem Land einen dauerhaften Nutzen verspricht, das gilt
für Arbeitsmigranten und für Flüchtlinge. Diese erfahren
vom ersten Tag an für sich und ihre Angehörigen ein umfassendes
Integrationsprogramm. Allen anderen zeigt das
Land die kalte Schulter. Jeder illegale Grenzübertritt hat
die Abschiebung zur Folge. Im Gegensatz zu uns, sorgen
die Kanadier so für einen stetigen Zustrom an qualifizierten
Ausländern und benötigen auch keine Notunterkünfte.
67
Während dort und anderswo Migrantenkinder überdurchschnittlich
gute Bildungsabschlüsse erreichen, gilt
hierzulande das Gegenteil. Seit Jahren wird ergebnislos
an Deutschförderklassen herumgebastelt. Ohne Visionen
und nur populistisch ausgerichtet, blockiert sich Österreich
selbst seine Zukunft.
68
Die Migration gehört zu uns
Das Thema Flucht und Migration beherrscht nach der
Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wieder die
Schlagzeilen. Über eine moralische Verpflichtung Europas,
seine Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, wurde, wie heute,
schon im Krisenjahr 2015 kontrovers diskutiert. Und der
Streit in der EU, wer wie viel Verantwortung für Schutzsuchende
übernimmt, wird auch nicht so schnell abreißen.
Meine Wurzeln habe ich hier, meine Eltern sind hier geboren,
dieser Ort gehört mir, diese Erde gehört mir – und
ich gehöre dieser Erde, da hat kein Fremder Platz! Dieser
Mythos bildet bis heute die Grundlage, auf der Bürgerschaft
in den europäischen Nationalstaaten definiert
werde, schreibt die italienische Philosophin Donatella Di
Cesare in ihrem Buch „Philosophie der Migration.“ Liegt
in dieser tief verankerten Haltung die Ursache dafür, dass
Europa sich geradezu martialisch gegen Einwanderung
abschottet? Was heute passiert, ist jedenfalls nichts anderes,
als ein Gefecht Europas und seiner Nationalstaaten
gegen die Migranten.
Dass das Fremde, der Flüchtling schon immer als Bedrohung
wahrgenommen wurde, geht wohl auf die antike
griechische Philosophie zurück, die zwischen Bürgern
und Fremden streng unterschieden hat, und auch Platon
gesteht Bürgerrechte ausschließlich Menschen zu, die auf
dem Gebiet des Staates geboren wurden und dort auch
immer blieben.
Für die bei uns ansässigen Fremden, Flüchtlingen, bedeutet
Wohnen nicht nur, sich hier niederzulassen und
69
einzurichten, sie müssen auch damit fertig werden, ihre
„Erde“ aufgegeben zu haben. Wir alle haben mehr oder
weniger Groß- oder Urgroßeltern, die Migranten gewesen
sind. Migration gehört also auch zu unserer persönlichen
Geschichte, das sollen wir nicht vergessen.
70
Abschottung keine Lösung
Im Jahr 1989 wurde eine Mauer niedergerissen und ein
Zeitalter der Weltoffenheit und Internationalität schien
anzubrechen. Gut drei Jahrzehnte später stecken wir in
einer Festungsmentalität. Der Hauptgrund für die geistigen
und realen Mauern, die sich überall auf dem Kontinent
auftürmen, ist das Aufhalten der Migrationswelle.
Terrorismus in ganz Europa hat dazu geführt, dass die
Menschen fürchten, Terroristen würden getarnt als
Flüchtlinge und Asylsuchende ins Land kommen. Treibende
Kraft dabei ist die geschürte Furcht vor dem Islam
und eine Islamophobie, die von Muslimen als Menschen
nichts wissen will. Diese Ideologie läuft den Idealen der
EU zuwider. Sie steht für die wachsenden Differenzen, die
die Europäische Union zu sprengen drohen.
Schon jetzt lässt unsere Willkommenskultur zu wünschen
übrig und Ökonomen befürchten gravierende Folgen für
den Wirtschaftsstandort Österreich. Dabei sind wir als
alterndes Land auf Zuwanderung angewiesen. Es fehlen
Zehntausende Arbeitskräfte. Unsere komplizierte Sprache
und die Bürokratie machen es ohnehin schwer, Fachkräfte
zum Kommen und zum Bleiben zu bewegen.
Österreich muss mit der neuen Realität der Migration und
der moralischen Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen,
klarkommen und darf dabei seine zentralen Werte nicht
aus den Augen verlieren. Wenn Ultrarechte in AfD und
FPÖ jetzt eine „Festung Europa“ fordern, den „globalisierten
Zugriff aus Brüssel“ kritisieren, russlandfreundliche
Positionen vertreten und gleichzeitig die „kriegslüs71
terne Sanktionspolitik“ der Europäischen Union geiseln,
liefern sie keine gesunde Zukunftsperspektive, sondern
puren Populismus. Mit restriktivem Nationalismus werden
wir unseren Wohlstand in Zukunft wohl kaum halten
können.
72
Wir leben in der Defensive
Mit dem Sturz des Kommunismus 1989 glaubte man, die
Geschichte steuert jetzt endlich auf freie Gesellschaften
in freien Ländern hin. Keiner sah den heutigen Zustand
voraus: autoritärer chinesischer Kapitalismus in Gestalt
Xi Jinpings, eine faschistische Diktatur in Russland unter
Putin, eine islamistisch-nationalistische Türkei Erdogans
oder „illiberale Demokratien“ innerhalb der EU. Das sind
die fragwürdigen Alternativen zu unserer liberalen Gesellschaft.
Die freie Gesellschaft ist heute überall in der Defensive.
Der weltweite Terror hat zu einer vorauseilenden Selbstzensur
der Medien in der freien Welt geführt. Lange vor
dem Sieg der Taliban in Afghanistan sorgten ihre Brüder
im Geist, die radikalen Islamisten, für die größte Gefahr
im liberalen Westen. Gemeinsam mit dem autoritären Kapitalismus
haben sie bei uns längst in Gestalt rechtsextremer
Parteien und islamistischer Netzwerke ihre fünften
Kolonnen und nützlichen Idioten gefunden.
An Grundprinzipien des Liberalismus, wie die Freiheit
des Individuums oder eine tolerante Gesellschaft, glauben
heute immer weniger Menschen. Wir geben vor, die
Meinungsfreiheit zu verteidigen, wenn es aber darauf ankommt,
versagen wir. Antisemitische, rassistische oder
frauen- und schwulenfeindliche Äußerungen sind jedoch
„keine Meinungen“, sondern sind pure Aggressivität und
Intoleranz.
Karl Popper sah die Gefahr und meinte, solange wir den
Intoleranten „durch rationale Argumente beikommen
73
und wir sie durch die öffentliche Meinung in Schranken
halten können, wäre ihre Unterdrückung höchst unvernünftig.“
An der Toleranz ist noch keine Demokratie zugrunde
gegangen, allenfalls am Mangel an Zivilcourage
gegenüber jenen, die Intoleranz im Namen der Toleranz
predigen.
74
Angst vor der Zukunft
Wie soll denn das Leben in einer „klimaneutralen“ Welt,
von der so viel gesprochen wird, eigentlich aussehen?
Was wird die Zukunft bringen? Nichts Gutes, wenn wir
dem globalen Diskurs der Politik Glauben schenken.
Eines ist jedenfalls gewiss: Handeln wir nicht sofort,
dann bricht in weniger als einer Generation das Verhängnis
über die Menschheit herein: immer wiederkehrende
enorme Hitzewellen, starke Gletscherschmelze der
Polarkappen, steigender Meeresspiegel, der vor allem die
Küstenstreifen bedroht. Autos, Dünger, Gasheizungen,
Kohlekraftwerke … heizen mit CO² und Stickstoff den
apokalyptischen Prozess weiter an, bis die Welt schlussendlich
zur Hölle wird unbewohnbar.
Wenn sich jemand mit dieser Weltsicht beim Psychologen
einfindet, bekommt er vermutlich Stimmungsaufheller
und Therapiegespräche verordnet, um aus seinem
schwarzen Loch in das er hineinmanövriert wurde,
herauszukommen. Das Kollektiv der Menschheit macht
jedoch mit diesen Schreckensvisionen weiter munter
Politik. Ein Verzicht auf die moralischen Pflichten zur
Rettung künftiger Generationen kommt keinesfalls in
Frage. Was uns in einer „klimaneutralen“ Welt erwartet,
bleibt in den politischen Verheißungen auffallend blass.
Das hat seine Gründe, denn wie sollte die Zukunft von
Milliarden Menschen aussehen, wenn nicht defensiv und
verängstigt?
Wann wäre das Klima je gerettet? Wie passt das zusammen,
dass der Mensch an sich gut ist, aber seinen Lebens75
raum kontinuierlich kaputt macht? Was sagt das über das
Gottesbild von Theologen und Ökophilosophen aus, vor
deren Augen die Menschen die Schöpfung schicksalhaft
zerstören? Antworten darauf werden jenseits politischer
Pragmatik am besten an die Nachwelt delegiert, denn die
Politiker sind heute nicht imstande oder nicht willens,
zukunftsweisende Antworten zu liefern. Ob die ökologische
Wende, die allseits propagiert wird, unsere angeschlagene
Zeit aus ihrer Krise retten wird? Wird auch die
Zukunftslosigkeit der „Letzten Generation“ – wie jede
Utopie – bald zur behaglichen Vergangenheit gehören?
Das letzte Wort wird immer die Natur behalten, denn
diese lässt sich nicht so leicht dreinreden.
76
Universum „Brüssel“
Brüssel ist eine Welt für sich. Auch wenn sich die jüngste
Schmiergeldaffäre nicht als die Spitze des Eisbergs, sondern
nur als Einzelfall erweisen sollte, wäre sie doch bezeichnend
für das, was im Europäischen Parlament und
in der EU alles möglich ist. Vermutlich verhält sich die
Mehrheit der Abgeordneten korrekt. Doch Brüssel scheint
auch dazu zu verleiten, die Grenze zur Vorteilnahme verschwinden
zu lassen. Die EU ist eine polyglotte und kosmopolitische
Veranstaltung mit hohem Gefahrenpotential.
In der EU neigt man dazu, sich für sakrosankt zu halten.
Ein Beispiel dafür lieferte Roberta Metsola, immerhin
Präsidentin
des EU-Parlaments. Nach Bekanntwerden
der Korruptionsaffäre sprach sie starke Worte: „Das Europäische
Parlament wird angegriffen. Die Demokratie
wird angegriffen!“ Ein bemerkenswertes Ablenkungsund
Umkehrmanöver. Die Aggressoren saßen vielmehr
im Parlament, im Hauptquartier. Der Feind lauert immer
draußen, drinnen ist die Welt heil.
So heil wie die Welt der NGOs. Diese Lobbyorganisationen
prunken gern mit hehren Zielen. Mehr Demokratie,
effektive Klimapolitik u.a. Ihre Karten spielen sie konsequent
aus. Längst sind sie zu einem veritablen Gewerbe
geworden, das in der Beschaffung staatlicher Mittel sehr
findig ist. Der NGO-Geist passt mitunter bestens zum
hochmütigen Geist der EU.
Der Italiener Panzeri war offensichtlich der Meinung, die
Schmiergelder stünden ihm zu. Dass ausgerechnet er eine
77
NGO leitet, die gegen die Straflosigkeit von Verbrechen
kämpft, ist wohl bittere Ironie. Nicht Abgeordnete und
Institutionen waren es, die diese internationale Gaunerei
aufgedeckt haben. Das Verdienst kommt einer Staatsanwaltschaft
und vor allem den viel geschmähten Geheimdiensten
zu.
78
Gespenst des Nationalismus
Das herumgeisternde Gespenst des Nationalismus macht
mir Angst. Immer dann, wenn von der Schwächung der
Demokratien und von Freiheit in Europa die Rede ist,
gewinnen die ultranationalistischen Parteien Europas, wie
der Front National in Frankreich, die AfD in Deutschland
oder die Fidesz-Partei in Ungarn die Oberhand. Aufgrund
der Migrationswelle in den letzten Jahren wurde die Unterstützung
für diese virulent nationalistischen Parteien
immer größer. Gemein ist allen, die Furcht vor allem was
fremd ist, zu schüren. Diese Linie wird oft bis zur unverblümten
Islamophobie überschritten und den Muslimen
grundsätzlich die Menschenrechte abgesprochen.
In den nationalistischen Wirren der ersten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts hatte schon Karl Kraus davor gewarnt,
unsympathisch am Chauvinismus sei nicht so sehr
die Abneigung gegen die fremden Nationen, als die Liebe
zur eigenen. Dazu will ich meinen, sein Vaterland, seine
Heimat zu lieben, ist gesunder Patriotismus, aber andere
Nationen zu verachten, ist eben purer Nationalismus.
Den Zusammenbruch des Kommunismus hatte ich voll
Spannung miterlebt und ich las gerade bei Francis Fukuyama,
dass jetzt das Ende der Geschichte gekommen sei
und der Anbruch eines prosaischeren, weniger heroischen
Zeitalters eingeläutet würde. Doch andere sahen bereits
die Dämonen der Geschichte voraus und warnten vor aufkeimendem
Nationalismus, vor ethnischen und religiösen
Spannungen in Europa. „In Wahrheit hatte die Geschichte
Europa weder verlassen, noch war sie hierhin zurückge79
kehrt. Mit dem Ende des Kalten Krieges veränderte sich
lediglich Europas Ort in der Geschichte,“ diagnostizierte
Mark Mazower.
In Zentraleuropa waren die nationalistischen und liberalen
Kräfte so lange Verbündete, als sie das gemeinsame
Ziel verbunden hat, den Realsozialismus zu beseitigen.
Dann jedoch trennten sich die Wege. Nach dem Jahr 2000
hofften viele Liberale, den wiedererstarkten Nationalismus
auf dieselbe Weise eindämmen zu können, wie sie
den Realsozialismus besiegt hatten.
Was mit dieser nationalistisch postulierten Freiheit gemeint
ist, bleibt eher willkürlich diffus und wird von
Populisten argumentiert, wie und wo es gerade in ihr
politisches Machtspiel passt. Viktor Orban führt dabei
gekonnt Regie und liefert der Europäischen Gemeinschaft,
deren Mitglied Ungarn immerhin noch ist, unverblümt
die Kampfansage. Durch seinen Umgang mit
bürgerlichen Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit sowie
seiner Migrationspolitik stellt er sich de facto außerhalb
der europäischen Familie.
Das Beispiel Ungarn zeigt, in einer Demokratie kann man
den Nationalismus nicht so einfach beseitigen. Ich denke
jedoch, dass man imstande sein muss, nationalistische
Tendenzen in der Gesellschaft abzufangen. Denn nur
dann kann man dem wachsenden Einfluss der Nationalisten
entgegentreten. Dabei können Wahrheit und Würde
nicht hilflos gegenüber Manipulationen der Menschen,
Hass gegen alles Fremde und geschürte Fake News in den
missbrauchten sozialen Medien stehen.
80
Der Gordische Knoten EU
Mit den Verträgen von Rom im Jahr 1957 sollte das Projekt
einer kompakten europäischen Einheit ins Leben gerufen
werden. Sechs Jahrzehnte später ist aus der Europäischen
Union ein verhärteter Knäuel unterschiedlichster Standpunkte
und Sichtweisen geworden und der verbindende
Faden verloren gegangen. Einige der 27 Mitgliedsstaaten
wurden unzufrieden und erwähnen das Ziel einer logischen
Kontinuität gar nicht mehr.
Eigentlich muss man von zwei Klubs sprechen: der Nato
und der EU. Der erste bringt den einzelnen Beitrittsländern
mehr Vorteile als Pflichten, beim Zweiten sorgen immer
mehr institutionelle Kontrollen durch die Beamten
in Brüssel und allmähliches Aufgeben der Souveränität
zunehmend für Zündstoff. Viele sehen in dieser Europäischen
Gemeinschaft nur noch einen halbherzigen Gegenentwurf
zu den nationalstaatlich geführten Mitgliedsländern.
Die beinahe europafeindlichen Diskurse, wie sie aktuell in
Polen durch die seit Jahren regierende PIS und in Ungarn
durch Viktor Orbans Fidesz-Partei geführt werden, haben
genau da ihre Grundlage. Wenn Brüssel ständig daran
erinnert, dass man zuerst seine Pflichten erfüllen muss,
um dann auch von seinen Rechten profitieren zu können,
multipliziert sich der Effekt der Schikane. Die Entscheidung
des polnischen Verfassungsgerichts, sich nicht der
Rechtsprechung aus Luxemburg unterzuordnen, wirkt daher
wie ein politisches Erdbeben, dessen Auswirkungen
bis nach Frankreich und andere Mitgliedsstaaten der EU
81
zu spüren sind, wo der Nationalismus stetig zunimmt und
das Misstrauen gegenüber der Machtkontrolle in Brüssel
wächst.
Der Europäischen Gemeinschaft ist leider der innere
Kompass
verloren gegangen und eine gemeinsame visionäre
Strategie nicht in Sicht. Ist es da noch möglich, den
Faden der Geschichte wieder aufzugreifen und auf die
vor sechs Jahrzehnten in Rom gezogene Linie zurückzukehren?
Alexander der Große hat jedenfalls sein Problem
gelöst und den Seilknoten, den König Gordios an seinem
Streitwagen befestigt hatte, kurzerhand mit dem Schwert
durchschlagen. Vielleicht gibt es intelligentere Lösungen,
um den Knoten, der die EU durchwirkt, zu lösen?
82
Neue Sprache der Macht
Die EU erlebt gerade eine Rückbesinnung auf ihre Werte
und dieses europäische Modell erweist sich widerstandsfähiger
und solidarischer, als Diktatoren wie Putin glaubten.
Der Krieg in der Ukraine und die Coronapandemie
werden langfristige Folgen für eine neue geopolitische
Weltordnung haben: politisch-militärisch, wirtschaftlich
und ideologisch.
Was Despoten wie Putin am meisten fürchten, ist die
mentale und moralische Stärke ihrer Gegner. Deshalb
muss Europa die „Sprache der Macht“ schneller und eindeutiger
sprechen und die EU muss erst den Großmächten
USA und China ebenbürtig werden.
Für Investoren und Touristen ist Europa heute die attraktivste
Region der Welt. Leider auch für Diktatoren und
Oligarchen, deren Jachten im Mittelmeer ankern, deren
Vermögen auf europäischen Konten lagern und deren
Kinder in Schweizer Internaten ausgebildet werden. Europas
bisheriges Erfolgsmodell „Wohlfahrt und Wohlfühlen“
braucht dringend eine Ergänzung, denn unser Demokratie-
und Sozialmodell muss auch außen- und sicherheitspolitisch
verteidigt werden.
Europa muss digital, ökologisch und demokratisch aufrüsten.
Erste Schritte sind getan. Mit Cyberattacken werden
Infrastrukturen unserer Länder angegriffen. Die
Energie
wurde bereits zu Putins Waffe. Und er wird noch
länger die besseren Karten haben, solange unsere klimaneutrale
Wirtschaft hinterherhinkt. Angesichts dieser
Entwicklung
wird sich die EU erweitern müssen. Geor83
gien u. a. haben bereits Anträge gestellt, weitere werden
folgen. Eine ernstzunehmende Zukunftsunion braucht
funktionierende Regionen, Städte und Kommunen, und
so wird auch die Eigenvorsorge immer wichtiger. Wenn
wir weiterhin frei in Frieden leben wollen, müssen wir für
den Ernstfall gewappnet sein.
84
Politische Ängste
Greta Thunbergs Programm lautet „I want you to panic“.
Das Politikangebot der Grünen beruht zum Großteil auf
dieser Angst vor einer Klimakatastrophe. Die Kernkraft
ist hochgefährlich, war jahrzehntelang das Angstrezept
der Regierungen, auf den lieben Onkel Wladimir haben
wir derweil fast unsere gesamte Energieversorgung aufgebaut.
Die Putin-Angst wurde all die Jahre fahrlässig unterbewirtschaftet.
Dass Politiker auf Ängste der Bevölkerung
keine Rücksicht nehmen sollen, klingt nach einem sehr
schrägen Handlungsrezept.
Angst gehört zum Menschsein. Manchmal ist sie nützlich,
manchmal überflüssig – wir wissen es erst im Rückblick.
Auch wenn sie unbegründet scheint, man sollte über sie
reden. Während die Ängste vor Corona, vor dem Klimawandel,
vor der Kernkraft oder der Inflation Dauerthemen
in Talkshows sind, gilt die Angst vor Problemen der
Migration manchmal als unaussprechlich. Die Solidarität
mit der Ukraine ist zum Glück noch groß und die Angst
vor ukrainischen Flüchtlingen klein. Das hängt mit kultureller
Nähe zusammen und mit der Vermutung, dass viele
nach Ende des Krieges wieder zurückkehren werden. Dass
Einwanderung in einem überalterten Land nötig ist und
gut sein kann, sollten die meisten inzwischen begriffen
haben.
Die weitverbreitete Angst bezieht sich auf außereuropäische
Einwanderung, vor allem auf islamische und Ideologien,
die unsere Lebensweise ablehnen und verachten. In
seinem Roman „Unterwerfung“ schildert Michel Houel85
lebecq die Angst vor feindlicher Übernahme. Sie besitzt
einen realen Kern und viele muslimische Flüchtlinge, ob
aus Syrien, Afghanistan, dem Iran oder aus Afrika, haben
Ängste vor einem unheilvollen Islamismus, denn sie kennen
ihn besser als wir, sie haben darunter gelitten.
86
Das Aushebeln der Demokratie
Ob links oder rechts, an beiden politischen Rändern verstehen
sich die Radikalen als die wahren Vertreter des
Volkes. Sie wissen genau, was der Bürger braucht, was
ihn plagt und wie sein Leben wieder sorgenfrei sein wird.
Eine echte Demokratie eben: „Wir sind das Volk“. Davon
träumen jetzt auch die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“
und beschwören auf ihrer Webseite einen „Wendepunkt“
herauf, an dem sich die Gesellschaft erheben
werde, um ihre Vorstellung von Demokratie zu verwirklichen,
„die das Potential hat, uns aus der Todesspirale
herauszuführen.“
Das Ziel der „Letzten Generation“ ist mit der Klimaneutralität
bis 2030 vorgegeben und müsse für das Parlament
bindend sein. So wird die repräsentative Demokratie
praktisch ausgehebelt. Rhetorisch aber treffen sie den
Nerv der Zei, und gegen den Populismus von links und
rechts und den Aktivitäten der Klimaaktivisten sind erodierende
Institutionen machtlos.
Die Europäische Union ist zutiefst undemokratisch,
sie müsse sterben, damit das wahre Europa leben könne,
heißt das Mantra von Rechtsaußen. Noch sind wir
glücklicherweise ein stabiler Rechtsstaat und eine funktionierende
Demokratie. Gleichwohl sorgen Populisten
dafür, dass das Vertrauen vieler Bürger in die Kompetenz
der Politik sinkt. Alles was unter „Establishment“
firmiert, steht plötzlich unter Verdacht. Dazu gehört die
Hetze gegen Presse, Kirche, Bildung, Wirtschaft, Leugnung
von Fakten und Infragestellung der Wissenschaft.
87
Gefährliche Angriffe gegen Grundwerte der Demokratie.
Dem Vertrauensverlust kann nur begegnet werden, indem
man keine Ideologien und Wunschträume zum Maßstab
politischen Handelns macht. Politik muss realistisch und
ohne ideologische Scheuklappen betrieben werden.
88
Machiavelli entdecken
Er lebte in einer Republik, die noch kaputter war als so
manche in der heutigen Zeit. Niccolo Machiavelli (1469-
1527) gilt als Bösewicht, der die hemmungslose Anwendung
politischer Gewalt rechtfertigt. Doch nur wenigen
scheint aufzufallen, dass er die Machtausübung begrenzen
und die Macht der Reichen beschränken wollte. Als Beamter
der Republik Florenz sah er die Rechte der Bürger
bedroht
durch Vetternwirtschaft, Korruption, Kriege,
Ausbeutung
und Massenarmut. Es waren die „tumulti“,
unruhige Zeiten, die er vor Augen hatte.
Man sollte Machiavellis Schriften, die „Discorsi“, der „Der
Fürst“ oder die „Geschichte von Florenz“ stets vor dem
Hintergrund der großen Konflikte jener Zeit lesen. Beständig
überlegt er, wie man den Einfluss aller Bürger auf
das öffentliche Geschehen sichern kann. Den Populismus,
das Übel der modernen repräsentativen Demokratie, hat
schon Machiavelli als Demokratiedefizit begriffen. Es
herrsche zwar formal Demokratie, nicht aber das Volk.
Der britische Politologe John McCormick stellt sich mit
Machiavelli eine Rückeroberung der Demokratie von unten
vor und keine populistische Revolution. Das ist der
entscheidende Unterschied zwischen -Links- und Rechtspopulismus.
Die republikanischen Tugenden müssen
sich jedoch in der politischen Realität beweisen, statt mit
leeren Sonntagsreden abgespeist werden. Auch der verstorbene
französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty
lobte Machiavellis Schriften als „Beitrag zur politischen
Klarheit“ und konstatierte ihm ernsthaften Humanismus.
89
Der Politik von heute würde eine Renaissance des Denkens
des Autors der „Discorsi“ guttun, dem eine rationale
Begrenzung der Politik vorschwebte. Stattdessen findet
oft die Entgrenzung ihre Legitimation in einer absoluten
Moral.
90
Neutralität zum Ersten …,
…zum Zweiten, … zum Dritten. Das Thema Neutralität
steht wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Die
Neutralität gedeiht nur im Schatten des Krieges und
sie bringt immer eine skeptische Grundhaltung zum
Ausdruck: sie verweigert sich dem Krieg, sie misstraut
aber auch dem Frieden. Es mag intellektuell reizvoll
sein, sie von Zeit zu Zeit in Frage zu stellen, politisch
klug war es nie
Wenn ein Kleinstaat wie Österreich der Welt gute Dienste
anbieten möchte, muss er sich zuerst mit einer strikten
Neutralitätspaxis Glaubwürdigkeit erwerben. In der Bevölkerung
ist die Neutralität laut Umfragen zwar tief verankert,
aber will sie auch die Konsequenzen mittragen?
Das Bundesheer war der „Ferrari“, der in der Garage blieb,
meinte völlig zu Recht der britische Völkerrechtler Ian
Brownlie. Vielfach spielt es nur als sehr nützliche Truppe
bei Katastropheneinsätzen eine Rolle.
Während der Ukrainekrieg Finnland und Schweden zu
einer geopolitischen Neuorientierung zwingt, wird unser
Land, das seine eigene Verteidigung nicht voll wahrnimmt,
aber neutral sein will, als politischer „Trittbrettfahrer“ eingestuft.
Österreich muss jetzt überlegen: warum nicht eine
ernsthafte Teilnahme an der „Gemeinsamen Sicherheitsund
Verteidigungspolitik“ der EU im Verbund mit der
NATO anstreben? Investitionen in Nachtsichtgeräte für
Eurofighter und Hubschrauber wären sogar eine Winwin-
Situation, dazu die Bereitwilligkeit an multilateralen
Friedensmissionen.
91
Letztendlich bleiben noch viele Fragen offen: Wie wird
sich die NATO weiterentwickeln, bröckelt der westliche
Schulterschluss? Wie sieht das Szenario nach den USWahlen
2024 aus und welchen Sicherheitsbegriff verfolgt
die EU? Abwarten, was passieren wird, ist kein guter Rat.
92
Ideologisch nie neutral
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch eine
kontroversielle Debatte um die österreichische Neutralität
in Gang gesetzt. Immer wieder wird versucht, diese neu zu
definieren. Außer Streit muss stehen, dass die Neutralität
mit Abstand der wichtigste Grundsatz unserer Außenpolitik
ist. Inzwischen ist sie gut in der Bevölkerung verankert,
wie alle Umfragen belegen.
Um Zurückhaltung bei Konflikten kommt kein neutraler
Staat herum, aber soll er bei schweren Verstößen gegen
das humanitäre Völkerrecht schweigen? Kein Zweifel, er
soll diese verurteilen, sagt der Schweizer Diplomat und
Publizist Paul Widmer. Was im Grundsatz von allen akzeptiert
wird, dazu darf sich auch ein neutraler Staat äußern.
Für Österreich muss daher die Maxime sein, unsere
Diplomatie soll wohldosiert und ideologisch fundiert
Stellung beziehen.
Es war so etwas wie die ideologische Feuertaufe für die
österreichische Neutralität. Als die Sowjetunion im Oktober
1956 den Ungarnaufstand brutal niedergeworfen
hatte, war es der Staatsvertragskanzler Julius Raab, der
selbstbewusst agierte. In einer Resolution an die Sowjetunion
gab seine österreichische Regierung eine eindeutige
politische Stellungnahme „zugunsten der demokratischen
Revolution in Budapest“ ab und forderte, dass durch die
„Wiederherstellung der Freiheit im Sinne der Menschenrechte
der Friede gestützt und gesichert werde.“ Raabs
Standhaftigkeit brachte Österreich auch außerhalb von
93
Europa viel Goodwill und selbst Lob vom Schweizer Bundespräsidenten.
Österreich hatte 1956 und 1968 beim sowjetischen Einmarsch
in die Tschechoslowakei glaubwürdig bewiesen,
dass die Unterscheidung zwischen militärischer Neutralität
und weltanschaulichem Neutralismus kein leeres Gerede
war.
94
Die Heimat hat Konjunktur
Ist damit alles klar, wenn der römische Philosoph Cicero
meint, Heimat sei dort, wo man sich wohlfühlt? Oder ist es
doch nicht so? Dieses Wohlgefühl will nicht als kurzfristiges
örtliches Dasein mit euphorischen Lebensmomenten
verstanden werden. Man muss es zeitlich uneingeschränkt
sehen und es hat ein dauerhaftes Sich-Niederlassen im
Auge. Es ist demnach eine komplexe Beziehung zwischen
Menschen und Lebensraum, die dem Wandel der Zeit unterworfen
ist.
Der Heimatbegriff hat wieder Konjunktur. Politische Akteure,
wie die deutsche Bundesinnenministerin Nancy
Faeser machen sich stark dafür. Sie will den Begriff „Heimat“
positiv umdeuten und so definieren, dass er offen
und vielfältig ist. Er soll ausdrücken, dass Menschen selbst
entscheiden können, wie sie leben, glauben und lieben
wollen. Damit impliziert sie jedoch, dass der Begriff der
Heimat zuvor negativ besetzt war. Eine Realität, die ausnahmslos
im linksradikalen Milieu vorherrscht. Diese
„Heimat“ soll demnach dem politisch extrem-rechten
Rand entrissen werden. Die Ministerin scheint zu meinen,
Heimat stehe immer noch für eine Art Blut-und-Boden-
Ideologie.
Wer heute in Österreich „Heimat“ sagt, kann schon aufgrund
der jüngsten Geschichte leicht in Verdacht geraten,
falschem Nationalstolz anzuhängen. Freilich lässt sich
hierzulande die Salonfähigkeit eines zeitgeistig getunten
Heimatbegriffs allein schon durch die Selbstpunzierung
einer Partei als „die soziale Heimatpartei“ festmachen.
95
Ob Heimat dem Diskurs der Rechten entspringt oder
ihre politische und gesellschaftliche Vereinnahmung geschichtlich
weit früher ihre Wurzeln hat, sei dahingestellt.
Die immer wiederkehrenden Diskussionen um die „Heimat“
zeugen da und dort von einem nach wie vor neurotischen
Verhältnis zu diesem Begriff. Dieser verkrampfte
Heimatdiskurs lebt vor allem von den Wortspenden geschichtsunmündiger
Politiker. Die Bürger und Bürgerinnen
sind dabei nur Statisten, deren Heimatgefühle wahlweise
gefördert, ausgetrieben oder umgedeutet werden.
Die richtige Deutung – wenn es überhaupt eine geben
kann – darf nie in den Händen der Politik liegen.
Historische Rückblenden sind vage und vom Nebel der
Geschichte umhüllt. In diesen aufflammenden Debatten
um den Heimatbegriff tut jedoch eine Erinnerung daran
gut, wie die Südtiroler 1939 leidenschaftlich um „ihre
Heimat“ gekämpft und gelitten haben. Es ging in den
zermürbenden Tagen der Option nicht um ein positives
Umdeuten dieses Begriffs, wie es Nancy Fraeser heute
vorschwebt. Es wurde um das Dasein gerungen. Die
bittere Alternative lautete: entweder du bleibst da in der
zunehmend „welschen Heimat“ und läufst Gefahr, südlich
des Po angesiedelt zu werden, oder du wirst deiner
Heimat untreu und wanderst ins Großdeutsche Reich aus.
Ob „Dableiber“ oder „Abwanderer“, die Heimat ging auf
jeden Fall verloren.
Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen,
heißt es. Die Gegenwart zeigt uns, wie vielfältig Heimat
heutzutage gelebt wird. So haben die vielen muslimischen
Zuwanderer in Europa mit einer positiven Deutung von
96
Heimat wenig Probleme. Man schaue sich nur die frenetische
Verwendung türkischer Flaggen auf Hochzeiten,
bei Demonstrationen für ihren Machthaber am Bosporus
an. Wenn es aber darum geht, den Heimatbegriff offen
und vielfältig zu machen, wie es Politikerwunsch ist, dann
ist das ein exklusiver Anschlag auf das, was uns mittlerweile
ohnehin eher als territoriale Verhandlungsmasse
zwischen verschiedenen Volksgruppen vorkommt, denn
als Heimat, die einem vertraut und lieb ist. Es geht nicht
um das, was Syrer, Türken oder Somalier unter Heimat
verstehen.
Das bisschen Heimatempfinden, das wir alle haben und
das wir leben wollen, ist es, worum es letztlich geht. So
ist auch die Renaissance des Heimatbegriffs, der vorzugsweise
in den Unterhaltungsmedien wahrzunehmen ist,
einzuordnen. Sie verzeichnen ein vermehrtes Bedürfnis
nach Authentizität, Gemeinschaftsgefühl in den Gemeinden
und Ursprünglichkeit. Dieser Trend wird dann auch
entsprechend durch folkloristische TV-Formate bedient.
Und plötzlich sind das Dirndl und die Lederhose wieder
cool. Noch vor wenigen Jahren hätte dieses Outfit bestenfalls
zur Selbstausgrenzung getaugt. In den 1950er Jahren
wurde einer kriegswunden Generation die heilsame Idylle
der heimischen Landschaft auf die Leinwand projiziert.
Schon ein Jahrzehnt später wurde dies als anrüchig empfunden.
Heimat ist ein Gefühl, das uns zu eigen ist oder nicht. Es
bemisst sich an Dingen, die eben nicht beliebig und für
jedermann zugänglich sind. Heimat ist immer auch etwas
Exklusives. Wer sich vor einer spezifischen deutschen,
97
österreichischen oder südtirolerischen Heimat mit ihrer
eigenen Kultur und klaren Werten scheut, der wird zu
einer nicht greifbaren Verhandlungsmasse, die keinerlei
integrative Wirkung auf Zuwanderer entfaltet.
98
Politik unter Dauerdruck
Wo liegt die Schuld, wenn heute ein regelrechter Widerwillen
gegen die Politik spürbar ist? Provokant könnte
man sagen, dass wir Wähler dabei Verantwortung tragen
und die Politikverdrossenheit sogar anheizen. Wir haben
schließlich die Politiker, die wir verdienen. Die Demokratiekrise
ist hierzulande besonders ausgeprägt.
Die Globalisierung, die Dominanz des Finanzmarktes
über die Wirtschaft und die komplizierte Struktur Europas
haben dafür gesorgt, dass Entscheidungen nicht mehr
an einem Ort, nicht mehr in heimischen Ministerien allein
gefällt werden. Sicher ein Grund, dass die Menschen
unsere Politiker als machtlos und inkompetent wahrnehmen.
Die Gesellschaft verlangt von ihren Volksvertretern ein
moralisch einwandfreies Leben, dass sie ihr Privatleben
öffentlich ausstellen, rund um die Uhr im Dienst sind und
auf jedes Ereignis sofort reagieren. Wir Wähler sollten
uns den wichtigen Dingen widmen: Parlamentsdebatten
verfolgen, sich für Parlamentsberichte interessieren und
Wahlprogramme wenigstens lesen.
Überhöhte Ansprüche können leicht nach hinten losgehen.
Berufspolitiker sind nicht alle Unschuldslämmer. Die
Korruption ist ein Dauerthema und wird in jedem Untersuchungsausschuss
stets von neuem befeuert. Aber: Die
überwiegende Mehrheit ist ehrlich, will die Gesellschaft
zum Besseren verändern, aber erntet selten Anerkennung.
Drei Dinge sind es, die den Politikerjob wohl zu einem der
99
undankbarsten machen: das Misstrauen der Wähler, die
Tyrannei der Transparenz und das Zeitdiktat.
Am meisten Sorgen dürfen wir uns um die Zukunft der
Parteien machen, die unabdingbar für die Demokratie
sind. Bislang hat aber noch niemand herausgefunden, wie
man sie dauerhaft wiederbeleben und die Grabenkämpfe
beenden kann.
100
Lieber Militär als Demokratie
Die meisten Menschen glauben nach wie vor an die Ideale
der Demokratie. Diesem System trauen sie am ehesten zu,
die individuellen Rechte der Bevölkerung wie Freiheit,
Religion, sexuelle Orientierung oder Grundversorgung zu
schützen. Das kürzlich veröffentlichte Open Society Barometer
mit Umfrageergebnissen aus 30 Ländern, darunter
Österreich, zeichnet noch ein überraschend positives Bild
der Demokratiefreundlichkeit.
Das sind die guten Nachrichten. Die Studie liefert alarmierende
Erkenntnisse, was die Jugend von der Demokratie
hält. Nur noch etwa 57 Prozent der 18- bis 35Jährigen
ziehen diese Regierungsform vor. Zwei von fünf jungen
Menschen wollen einen „starken Machthaber“ und würden
lieber eine Militärregierung vorziehen.
Diese Jugend ist in einer Krisenwelt aufgewachsen und
politisiert worden. Es sind die klimatischen, wirtschaftlichen
und geopolitischen Verwerfungen, die sich in den
letzten Jahren in einem noch nie dagewesenen Ausmaß
verstärkt haben und mit denen wir alle fertig werden müssen.
Die Sorgen über Terror, Korruption, Klimawandel,
Arbeitsplatz und die hohen Lebensmittelkosten liefern
wohl weiter Anhaltspunkte für diese Erschütterungen,
die den Ruf nach neuen Regierungsmodellen mit einer
„starken Führung“ auslöst.
Kein System und keine Regierungsform können sich
allein mithilfe abstrakter Ideale behaupten. Macht und
Legitimität der Demokratie stützen sich immer auf das
Vertrauen der Menschen, dass diese größeren materiel101
len Wohlstand bringen könne und somit ihr Leben verbessert.
Um der schleichenden Desillusionierung junger
Menschen entgegenzuwirken, ist eine glaubhafte Politik
gefordert, damit das Vertrauen in die Vorzüge einer demokratischen
Gesellschaft wiederhergestellt wird.
102
Die Worte im Griff halten
In der Psychotherapie kann man viele Probleme lösen,
wenn die Menschen darüber sprechen. Aber die Gefahr
eines Atomkrieges bannt man nicht, indem man sie immer
wieder heraufbeschwört. Je weniger aufgeregt über
die Atombombe geredet wird, desto wirkungsloser wird
dieses psychologische Horrorszenario sein. Seit der Kubakrise,
in der kein einziger Schuss fiel, wirkt die Atombombe
allein ihrer Existenz wegen über die Angst. Die
Furcht vor einer apokalyptischen Selbstauslöschung der
Menschheit war allgegenwärtig.
Seither sind 77 Jahre vergangen und „am 24. Februar 2022
wachten wir plötzlich in einer anderen Welt auf,“ formulierte
es Annalena Baerbock. Der Überfall der Atommacht
Russland auf die Ukraine mitten in Europa hat in uns alte
Ängste wachgerufen. Die Gefahr eines 3. Weltkrieges oder
eines Atomschlags ist wieder da. Während allerdings der
sowjetische Machthaber Nikita Chruschtschow in der Kubakrise
bei Entscheidungen in ein Politbüro eingebunden
war, hängt heute alles an einem einzigen Mann – Wladimir
Putin.
Putin, sein Außenminister Sergej Lawrow und die gigantische
russische Propagandamaschinerie nutzen die
Existenz ihrer Atombombe gekonnt, um durch psychologische
Horrorszenarien den ohnehin für schwach gehaltenen
Westen noch mehr zu schwächen. Die Zögerlichkeit
Deutschlands bei der Lieferung von Waffen an die Ukraine,
wobei Bundeskanzler Olaf Scholz immer wieder die
Gefahr eines drohenden Weltkriegs heraufbeschwor, be103
weist nur, dass russische Provokationen Wirkung zeigen.
Die Politiker der westlichen Demokratien müssen sich
bewusst sein, dass ihre Sprache Wirklichkeit schafft. Je
weniger aufgeregt über den Atomkrieg geredet wird, desto
wirkungsloser wird die Drohung mit der Bombe als psychologische
Waffe.
104
Klimapolitik in Zugzwang
Die internationale Energieagentur gibt der Klimapolitik
ein rasantes Tempo vor: Sie fordert den Totalumbau des
Energiesektors und schon ab dem Jahr 2025 ein Verbot
des Einbaues von neuen Öl- und Gasheizungen.
Das Ziel: Im Jahr 2050 stammen fast 90 % der Stromerzeugung
aus erneuerbaren Quellen, der Rest kommt
größtenteils aus der Kernenergie. Davon sind wir in Österreich
und in vielen anderen Ländern der Europäischen
Gemeinschaft noch meilenweit entfernt.
Der Lockdown hat das kulturelle und soziale Leben der
Gesellschaften zerrüttet und eine Wirtschaftskrise, deren
Ausmaß noch gar nicht abzuschätzen ist, ausgelöst. Die
Pandemie hat auch die politischen Institutionen gelähmt
und kaum etwas, was nicht mit Corona zu tun hatte, wurde
vorangebracht. Das alles wird sich eine Gesellschaft
im Krisenmodus auf Dauer nicht mehr leisten können.
Es sollte uns Sorge machen, denn auf die großen Herausforderungen
durch den Klimawandel sind wir nicht wirklich
vorbereitet.
Die Diskussion über die ökosoziale Steuerreform wird
halbherzig
und ideenlos geführt. Lieber hält man es mit
der jahrelang erfolgreich praktizierten Klientelpolitik, die
jedem scheibchenweise etwas bringt. Wenn sich die Regierung
jetzt nicht ernsthaft um die Ökologisierung des
Steuersystems bemüht, müssen wir schon demnächst
alle die Klimarechnung bezahlen. Überfällig sind breit
angelegte Investitionen in erneuerbare Energien und
ein eindeutiges, nicht halbherziges Bekenntnis zur Ver105
kehrswende. Das Ende der Zivilisation, wie wir sie zwar
sehr schätzen, aber mit der wir leider viel zu respektlos
umgehen, wird nicht so lange auf sich warten lassen, bis
der Meeresspiegel um ein paar Meter angestiegen ist und
unsere Gletscher dahinschmelzen. Es könnte schon mit
der nächsten Viruspandemie Schluss sein.
106
Über die politische
Freiheit im Alltag
Unsere bürgerlichen Gesellschaften brauchen eine Balance
von Liberalismus und Verboten, sonst wird die vielzitierte
„Freiheit“ schnell zum Kampfbegriff. Diktaturen
stellen in der Regel fast keine Alltagsgesetze auf. Der Alltag
der Bürger interessiert die Nomenklatura nicht. Aber
dort sich in aller Offenheit über den jeweiligen Präsidenten
aufzuregen, da setzt es Gefängnis und sogar Folter.
Die Menschen in Russland können ein Lied davon singen.
Umgekehrt verhält es sich in unseren liberalen Demokratien.
Um dem anderen möglichst wenig auf die Nerven
zu gehen, gibt es viele Gesetze. Etwa, dass Grünanlagen
nicht verdreckt werden, die Autos im Stadtgebiet nicht rasen
und die Geschwindigkeitsbeschränkungen einhalten,
damit die Menschen keine schädlichen Abgase einatmen
müssen und ruhig schlafen können, dass die Sperrstunden
eingehalten werden und so weiter. Aber öffentlich die
Regierung kritisieren, das ist schon lange keine Majestätsbeleidigung
mehr.
Radikaler als andere Demokratien geben sich die Amerikaner.
Sogenannte „hate speech laws“ gibt es nicht. So
ist es öffentlich erlaubt, Hakenkreuze auf Hauswände zu
kritzeln und Juden oder Schwarze zu beleidigen. Den
Sturz der Regierung fordern ist in den USA erlaubt, wer
aber zum Mord des Präsidenten aufruft, muss mit dem
Besuch des FBI rechnen. Gestattet ist es, ihn einen Nazi,
Kommunisten oder Dummkopf zu heißen oder – wie es
Joe Biden angetan wurde – das bösartige Gerücht zu ver107
streuen, er sei pädophil. Während der Coronapandemie
schleuderte der Ex-Gouverneur von Kalifornien Arnold
Schwarzenegger den Maskengegnern ungestraft „Scheiß
auf deine Freiheit“ entgegen.
„Eine bewaffnete Gesellschaft ist eine höfliche Gesellschaft“
sagen die amerikanischen Waffenfetischisten. Dahinter
verbirgt sich wohl die Vorstellung, dass, wenn man
im Alltag einem Menschen mit Revolver gegenübersteht,
auf der Stelle die besten Manieren Einzug halten. Weil
niemand über den Haufen geschossen werden will. Die
Amerikaner nennen dies Freiheit bzw. das Recht einer
Minderheit, auf niemand anderen Rücksicht nehmen zu
müssen. Die Freiheit der Waffennarren ist die Unfreiheit
der amerikanischen Kinder. Die Mehrheit der Amerikaner
denkt bekanntlich anders, sie hätten gern ein Waffenrecht,
damit sich Kinder in den Schulen nicht mehr gegen
den nächsten „gun man“ verschanzen müssen.
Schon die Geschichte der Menschheit zeigt uns, wie sehr
die Instrumentalisierung der Freiheit eine historische
Konstante
darstellt. Die Komplexität des Freiheitsbegriffs
wird immer ignoriert. Wenn es um Parteipolitik geht,
wird das Zurechtstutzen der Freiheit stets nur dem politischen
Gegner unterstellt. Der Staat darf sich nicht ins
stille Kämmerlein zurückziehen, sondern muss die Freiheit
auch über punktuelle Einschränkungen der Selbstentfaltung
fördern. Welchen Sinn hätte etwa die Presseförderung
in einer Gesellschaft von lauter Analphabeten.
Welchen Sinn hätte die freie Berufswahl, wenn nicht der
Staat die Grundlagen dazu geschaffen hat.
108
In großen Teilen der Gesellschaft wird schlicht geleugnet,
dass ein aufgeklärter Freiheitsbegriff auch mit Verantwortung
geknüpft ist. Andere wiederum opfern Aspekte der
negativen Freiheit als Ablehnung von Fremdbestimmung
und staatlicher Übergriffigkeit gern auf dem Altar der Sicherheit.
„Wo bleibt da der progressive Widerstand gegen
Maßnahmen, die in anderen Zusammenhängen bis aufs
Blut bekämpft worden wären, wo der Einspruch gegen
Grenzschließungen, allgegenwärtige Kontrollen und historisch
einmalige Grundrechtseinschränkungen“ fragt der
Politikwissenschaftler Michael Bröning.
Der Fokus rechtsgerichteter Parteien liegt eher auf einer
Freiheit vom übermächtigen Staat und Eigeninitiative.
Die ist plausibel und legitim. In westlichen Demokratien
hat man sich längst mit einem Freiheitsbegriff arrangiert,
der negative und positive Freiheitsrechte berücksichtigt.
Selbst hartgesottene Verfechter der Freiheit stellen sich
beispielsweise nicht ernsthaft gegen die Erhebung von
Einkommensteuern, die ja eigentlich das hehre Ideal des
Eigentums verletzen, nur um etwa unser Straßennetz zu
finanzieren.
Von linker Seite wird traditionell die Sorge vor einer Spaltung
der Gesellschaft angeführt. Den Gegnern der Corona-
Maßnahmen wurde mit Verachtung begegnet. Skepsis
ist eine freiheitlich demokratische Tugend. Natürlich ist
der Schutz der Gesellschaft und des Gesundheitssystems
vor Überlastung legitim. Doch auch, wie in Zeiten des
pandemischen Ausnahmezustandes geschehen, sollte
selbstverständlich sein, dass nicht die Menschen dem
109
System dienen, sondern das System den Menschen und
ihrer Freiheit.
Freiheit ohne Sicherheit ist das Gesetz des Dschungels. Sie
ist ein kostbares und fragiles Ideal, das schwer zu ersetzen
ist, wenn es einmal aufgegeben wurde. Nicht zuletzt die
Anti-Terror-Gesetze des 11. Septembers liefern hier ein
Menetekel.
Der große Vordenker des Liberalismus, John Stuart Mill,
schrieb: „Über ein Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft
darf Macht, wenn sie gegen seinen Willen geht, nur ausgeübt
werden, um Schaden von anderen abzuwenden.“
Meines Erachtens muss dann aber auch Macht ausgeübt
werden. Festzustellen ist: Freiheit bedeutet jedenfalls
nicht, dass in einer liberalen Demokratie, wie wir sie leben,
jeder alles darf. Oder es bedeutet, dass jeder alles
darf, was keinen anderen verletzt.
110
ewig
zeit geschenkt.
zeit für mich.
was mir gegeben?
wo mein Besitz?
grenzen spür ich.
eweigkeit
hoffnung der Zeit.
ernte
h.oeggl
Gesellschaft
113
Ohnmacht und Zuversicht
Unsere Großeltern und Eltern mussten die Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg im Chaos und in großer Unsicherheit
durchleben. Alles war im Umbruch: Gesellschaft
und Politik, Wirtschaft, Kultur und die Kirche. Die alten
Ordnungen waren zusammengebrochen, neue Strukturen,
die den Menschen nach den schweren Kriegsjahren
Halt und Sicherheit geben sollten, wurden sehnsüchtig
erwartet, waren aber noch lange nicht in Sicht.
Dieser Zwischenzustand setzte sich fort, bis der Staatsvertrag
den Österreichern neues Selbstverständnis schenkte
und wir am Radio aufgeregt Leopold Figls leidenschaftliches
„Österreich ist frei“ mitverfolgten. Die Kirche kam
dann nach dem konziliaren Zwischenhoch neu und tiefer
in die Krise. Europa und die Welt waren noch immer im
Kalten Krieg festgefahren, bis der Kommunismus scheinbar
implodierte. Während sich im Nahen Osten bedrohliche
islamische Revolutionen ereigneten, verschärfte sich
gleichzeitig die weltweite soziale Ungleichheit und die
ökologischen Probleme traten immer massiver zu Tage.
Und wieder fühlte man sich unsicher im Wartestand und
wurde ungeduldiger.
Der Weltfriede, den man sich nach dem vermeintlichen
globalen Sieg der demokratischen und kapitalistischen
Systeme erwartet hatte, ließ auf sich warten. Nine-Eleven
war das nächste Schlüsselereignis und brachte eine längst
überwunden geglaubte finstere religiöse Gewalt zum Ausbruch.
Mit China drängte sich immer heftiger eine neue
bislang unbeachtete Weltmacht auf, während in Europa
114 114
der Zusammenhalt schwächelte. Die Flüchtlingsströme
führten zu menschlichen und politischen Verwerfungen.
Nach der Migrationswelle im Jahr 2015 lag bleierne
Schwere über ganz Europa. Wieder aufflammender Nationalismus
und Rechtspopulismus, Terror, Rassismus
und Antisemitismus, in vielem angstbesetzt und hassgesteuert,
entstanden aus dem Nichts. Regime wurden zusehends
autokratischer und totalitärer, die Demokratie
wirkte bedroht. Die Kirche wurde durch die Aufdeckung
ihrer Skandale in ihrem Selbstbild und Wirken erschüttert.
Und heute? Das über Jahrzehnte hin Unvorstellbare ist
eingetreten. Es herrscht wieder Krieg in Europa. Es ist
kein Bürgerkrieg wie beim Zusammenbruch Jugoslawiens.
Ein hinterhältiger Angriffskrieg der russischen Weltmacht
gegen die souveräne Ukraine. Damit geht am alten
Kontinent die längste Friedensperiode der Geschichte
zu Ende. Sterbende Menschen, zerstörte Infrastruktur,
Cyberwar, Sanktionen: Ein hybrider Krieg, beim dem
die Schlachtfelder unüberschaubar sind und die größte
Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg zu beklagen
ist. Dieser Krieg wird militärische Auswirkungen auf Europa
und die Welt haben. Der Kalte Krieg war nie wirklich
vorüber müssen wir erkennen. In Amerika, dessen politische
Kultur nach Trump verrottet ist, will die neue Führung
wieder die transatlantischen Beziehungen pflegen
und zurück zu alter Weltmachtstärke. Afrika wird zum
Armenhaus und China erscheint immer bedrohlicher.
Wenn die Menschheit die schreckliche Plage Corona --
gleichwohl die größte soziale Herausforderung unserer
115
Gesellschaft mit zwei Jahren erzwungener Häuslichkeit
und Kontaktreduzierung -- überwunden hat, wird sie sich
weiterhin vielen drängenden Problemen, insbesondere
dem Klimawandel und der Migration widmen müssen.
Entweder es gelingt in den nächsten Jahren eine grundlegende
Transformation unserer Art und Weise, den Planeten
Erde zu bewohnen, oder wir steuern auf eine humanitäre,
biologische und ökologische Katastrophe globalen
Ausmaßes zu. Noch aber gibt es nach wie vor Hoffnung.
All diese Mühsal hat das technokratische Selbstbild der
Menschheit erschüttert und in ihrer Unbezähmbarkeit
immer mehr Zeitgenossen verängstigt. In der Konkurrenz
mit anderen Weltanschauungen schwächelt das Christentum
und die Kirchen schaffen es nicht, ihre innere Zerrüttung
aufzuarbeiten und ihre Botschaft zu vermitteln.
Einige Christen träumen von einer Kirche, irgendwie heil
eingebettet in festen Ritualen. Sie idealisieren ein Christentum
des 19. Jahrhunderts, rückgreifend auf ein verklärtes
Mittelalter, das es so nie gab. Andere klagen hartnäckig
überfällige Reformen ein und nicht wenige versanden in
abstrusen Verschwörungsideologien. Bei allen Gruppen
gehört Unzufriedenheit zum vorherrschenden Lebensgefühl.
Die Türen stehen offen für Fake News, Lüge und
Manipulation. Die Sehnsucht nach Sicherheit, Ordnung
und zeitloser Wahrheit wird immer radikaler als Traum
entlarvt.
Schon vor 2000 Jahren verkündete Jesus die Apokalypse
als gegenwärtig und seither hat sich das nicht geändert.
Christen dürfen die Dinge dieser Welt dennoch genießen,
heißt es, weil sie in Nähe und zugleich in Distanz zur Welt
116
leben. Ihre Haltung ist Vertrauen, Geduld, Hoffnung. Der
Philosoph der evolutionären Welt, Pierre Teilhard de
Chardin SJ, sagt: „Über allem traue der langsamen Arbeit
Gottes. Denn das ist Gesetz aller Entwicklung, dass der
Weg über verschiedene Phasen der Instabilität geht und
sehr lange Zeit braucht.“ Das Dazwischen zu akzeptieren,
fordert uns Menschen heraus.
117
Über die Rettung der Debattenkultur
Gestritten werden soll über alles, es kommt auf die Kultur
der Debatte an. Der Streit gehört ja zum Wesen der
Demokratie. Eine politische Diskussion wird dann unmöglich,
wenn jeder behauptet, die Wahrheit für sich gepachtet
zu haben.
Landauf, landab ist die Tendenz zu beobachten, wie im
politischen Extremismus die Welt in zwei Hälften geteilt
wird: Gut und Böse, Richtig und Falsch und selbst
in Hübsch und Hässlich. Die eigene Position wird dabei
selbstredend mit einer sakrosankten Haltung verwechselt.
Überflüssig geworden ist jede Diskussion, wenn die eigene
Position nicht nur inhaltlich, sondern auch moralisch
überhöht wird. So ist aus dem Pluralismus ein Sektierertum
geworden, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz.
Themen wie Ernährung, Gesundheit, Körperkult, Klima
– man findet nur noch vorgebene Standpunkte, die dem
Einzelnen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein.
Der Wert des kultivierten Streits wird nicht mehr verstanden.
Die Klimaaktivistin Greta Thunberg bekundete
2019 mit US-Präsident Donald Trump nicht diskutieren
zu wollen. Eine Diskussion mit Trump bringe nichts, weil
man von vorneherein wisse, dass sie zu nichts führe. Dasselbe
hätte natürlich auch Trump sagen können. Der Wert
einer öffentlichen Diskussion besteht gerade darin, dass
sich die Menschen eine eigene Meinung bilden können
und nicht eine vorgefertigte unantastbare Meinung nachgebetet
werden muss.
118
In diesen Tendenzen sehe ich eine große Gefahr für die
Demokratie. Extremistisches, ja totalitäres Gedankengut
wird offenkundig. Daher ist es besonders wichtig, dass gesellschaftliche
Debattenkultur mit einer Rückbesinnung
auf altes Wissen wiederbelebt wird. Das Orakel von Delphi
hat Sokrates einst zum gescheitesten Mann Griechenlands
erklärt. Niemand war davon überraschter als er selbst,
der bekanntlich ja wusste, dass er nichts wusste. Auf der
Rundreise durch die Lande fand er viele Menschen mit
herausragenden Kenntnissen auf bestimmten Gebieten.
So glaubten sie auch, auf anderen Spezialgebieten schlaue
Sager von sich geben zu müssen. Sokrates lebte es ihnen
vor: Zurückhaltung ist das Gebot der Stunde, wenn man
dazu neigt, die eigene Meinung für das Nonplusultra zu
halten.
Besonders bei sozialen und politischen Problemen ist die
eigene Sichtweise abhängig von Erziehung, Sozialisation,
Schule, oder wirtschaftlichem Hintergrund und so weiter.
Das gleiche Problem kann sich für zwei Menschen
aus unterschiedlichen Milieus ganz anders darstellen. Ein
zentraler Satz der Erkenntnistheorie lautet: „Ich weiß es
nicht“. Von politischen Mandataren kann man nicht erwarten,
dass sie Universalgelehrte und technokratische
Spezialisten sind. Was für eine Befreiung und gelebte Debattenkultur
wären etwa die Antwort eines Parlamentariers:
„Ich bin der Meinung, Sie haben recht. Auf der Basis
Ihres Argumentes muss ich Ihnen zustimmen.“
Besonders in der Auseinandersetzung mit Populisten
und Extremisten bemühen sich alle, vom nicht beamteten
Universitätsdozenten bis zum Fernsehjournalisten
119
um Haltung, meist gegen rechts. Die Diskussionslosigkeit
gegenüber fragwürdigen oder problematischen Personen
oder Ideologien ist selbstentlarvend. Wer ein sattelfester
Demokrat ist, kann einen Populisten inhaltlich stellen.
Argumentativ und intellektuell nicht so integer, wie er
gerne von sich glaubt, ist einer, der zur Ausgrenzung greifen
muss. Vielleicht liegt die Rettung der Debattenkultur
darin, einzusehen, dass man einmal völlig daneben liegen
könne.
120
Gesellschaft bedarf Kirche
Die Kirche zu verlassen, gehört heute zum guten Ton.
Kaum jemand scheint dies zu stören, vielmehr gilt es geradezu
als ein Gebot der Vernunft. Wer nach den Missbrauchsskandalen
oder dem Gezerre um fragwürdige
Bischofsernennungen allen Ernstes noch der Kirche die
Treue hält, sei selber schuld. Die Dummen seien nicht die
gehen, sondern jene die bleiben, heißt es.
Es stellt sich die Frage, ob dieses allseits akzeptierte und
praktizierte Kirchenbashing doch zu den kollektiven Reflexen
gehört, die dieser Gesellschaft eines Tages noch
leidtun werden. Wenn sich die Kirche als seelische und
ethische Instanz einmal ganz verflüchtigt hat, wird das
Heer der Ausgetretenen irgendwann schon darüber nachdenken,
welche Folgen das haben wird. Schon jetzt, da die
Katholische Kirche im Jahr 2022 an die 90.000 Austritte
registrieren musste und nur noch 52 Prozent der Österreicher
sich als Katholiken bekennen, ist Österreich ein
Land, in dem große ethische Fragen an Bedeutung verlieren.
Wir sind eine Gesellschaft geworden, in der immer mehr
Menschen mit ihren seelischen Nöten nicht mehr fertig
werden. Wir stolpern von einer miesen Bildungsstudie
zur nächsten. Viele junge Familien werden auf der Suche
nach einer verlässlichen Kinderbetreuung im Regen stehen
gelassen: ein Land, das in vielfacher Weise moralisch,
kulturell und geistig verarmt.
Sind diese Defizite schuld daran, dass die Kirche so
schwach ist oder ist es andersrum? Es ist eher eine Wech121
selwirkung. Beides bedingt einander und schaukelt sich
gegenseitig hoch. Die Ausgetretenen kümmerts wenig. Es
wäre im Interesse des Landes, würden die noch verblieben
Kirchenmitglieder den richtigen Weg vorzeigen, nämlich
im Dienst am Mitmenschen und in einer gelebten Gemeinschaft.
122
Empathie nur hohler Begriff
Das Wort Empathie ist einer der meistgebrauchten Begriffe
unserer Zeit. Keine Charity-Gala und kein Elternabend
kommen ohne den Ruf nach Empathie aus. Wie aber können
Menschen immer noch dem Elend der Ukrainer regungslos
zu schauen? Sind wir eben dabei, uns an diesen
Krieg zu gewöhnen, so wie wir täglich lethargisch hinnehmen,
dass die Einkaufstaschen nur mehr halbvoll bleiben
und die Benzinpreise auf hohem Niveau verharren?
Immer lauter werden die Stimmen, die uns überzeugen
wollen, dass es in jedem Konflikt nicht nur Weiß und
Schwarz, sondern auch viele Grautöne dazwischen gibt
und man nicht „einseitig“ sein dürfe. Wir müssen doch
nicht lange überlegen, wer den Krieg vom Zaun gebrochen
hat und wer ukrainische Städte und Dörfer und Krankenhäuser
in Massengräber verwandelt und die Menschen in
die Flucht treibt.
Wie ist das zu verstehen, wenn Mitbürger, die sich um den
Klimawandel sorgen und „natürlich“ klimaneutral in den
Urlaub oder sonst wohin reisen, die seltene Tierarten vor
dem Aussterben bewahren wollen, Pflanzen und Insekten
in ihr Herz geschlossen haben, Bio-Produkte kaufen, aber
dem Elend ihres Nachbarn regungslos zuschauen und dabei
murmeln „was kann ich dafür?“
Wo bleibt da die vielzitierte Empathie? Die Gesellschaft ist
kalt geworden. Ein Hoch dem Wohlfühlfaktor und dem
„geilen“ Fun-Erlebnis!
freiheit
freiheit
hab ich
sklave
des tuns
bange dies
zu leben.
trost in dem
der freiheit
geschenkt.
pflicht muss
ich leben
h.oeggl
124
Privater Raum ging verloren
Was haben das Internet und die sozialen Medien bloß
aus unserer Gesellschaft gemacht? Diese Frage sollte sich
eigentlich jeder stellen. Die letzten Jahrzehnte haben wir
vermutlich alle mehr oder weniger ernsthaft damit zugebracht,
die Revolution der Kommunikation zu begreifen.
Sie ist so enorm, dass im Vergleich dazu die Erfindung des
Buchdruckes nur als eine Fußnote der Geschichte wahrgenommen
wird.
Was wir alle gewaltig unterschätzt haben und was auch keiner
von uns geahnt hat, ist Realität geworden. Wie sich täglich
zeigt und wie viele schon persönlich erfahren mussten,
sind es vor allem die sozialen Medien die ultimativ neue
„Dogmen“ verbreiten und konträre Meinungen zermalmen.
Wir wurden gezwungen zu lernen, in dieser neuen
Welt mit Facebook, Instagram, Twitter, YouTube, tiktok
oder WhatsApp zu leben und zu arbeiten, in der wir zu
jeder Zeit ein Gespräch mit einer einzigen Person oder aber
mit Millionen Menschen führen können.
So wurde die Trennung zwischen privatem und öffentlichem
Raum faktisch aufgehoben. Was wir von jedem
beliebigen Platz aus von uns geben, – Privates, Familiäres
und Intimes – kann an einem anderen Ort gepostet werden,
wo es nicht nur die ganze Welt erfährt, sondern auch
für alle Zeiten abrufbar ist. Wir sind also aufgefordert,
uns zu überlegen, wie wir online so kommunizieren und
agieren, als würden wir dies ohnehin vor aller Augen tun,
natürlich im Wissen, dass ein einziger Ausrutscher jederzeit
von überall abrufbar ist.
125
Die sozialen Medien sind ein komplexes System an Vorstellungen.
Es indoktriniert uns, dort könne man über alles
reden und schreiben, auch über unseren persönlichen
Kummer. Am besten, wir konzentrieren uns als Nutzer
nur noch auf unsere kleine Welt.
126
Wir schrumpfen und vergreisen
Laut Statistik Austria nimmt die Zahl der Menschen
in Österreich ohne Zuwanderung immer mehr ab und
ihr Altenteil steigt rapide an. Wir schrumpfen und vergreisen
demnach oder man versucht gegenzusteuern.
Eine Möglichkeit: wieder mehr eigene Kinder.
Dies ist leichter gesagt als verwirklicht. Drakonische
Maßnahmen waren schon im antiken Griechenland
und in Rom untauglich, den extremen Kindermangel
zu überwinden.
Wir müssen begreifen, dass wir in Zukunft existentiell
gefährdet
sind, wenn wir unsere Alten, Kranken und
Pflegebedürftigen nicht mehr aus eigener Kraft versorgen
können, wenn tausende Lehrstellen und Arbeitsplätze
ohne Personal unbesetzt bleiben. Solche Menschen sind
rar. Österreich braucht keine opportunen Hier-und-heute-
Politiker, diese sollten sich vielmehr zu einer kontrollierten
Zuwanderung durchringen.
Es ist also keine Gutmenschen-Marotte, wenn man Mitmenschen,
die wegen Terror, Hunger und Kriegen ihre
Heimat verlassen mussten, aufnimmt. Offene Tore sind
freilich eine starke Herausforderung. Vorausgesetzt ist
ein ernsthafter Wille zur Integration, das Erlernen der
Sprache und die Anerkennung der Normen unseres Landes.
Als im Jahr 1845 die Kartoffelfäule Irland heimsuchte
und die Menschen im Elend versanken, flohen zwei Millionen
Iren in die USA. In der „Neuen Welt“ wurden
sie mit Ablehnung und Gewalt empfangen. Sie setzten
127
sich durch. Zu den Hungerflüchtigen von damals zählten
auch die Vorfahren von John F. Kennedy.
128
Sprache färbt die Gesellschaft
Kein Zweifel, die Sprache ist politisch! Sie ist heute nicht
mehr bloß ein Mittel des Ausdrucks, sondern eine Macht,
welche die Gesellschaft formt. Statt Ansichten zu respektieren,
wird bestimmt, was gut und was böse ist. Der Genderzwang
ist typisch für den Trend. Das Dogma lautet:
Nur wenn wir alle gendergerecht sprechen, kann die geschlechtsspezifische
Ungleichheit überwunden werden.
Wer das anders sieht, gehört schnell zum Feindbild eines
typischen Mainstreams: er ist hoffnungslos konservativ
und politisch eher rechts.
Wenn jedoch die Ideologie dominiert, leidet die Qualität
der Sprache und des Ausdrucks. Maturanten oder Uni-
Absolventen können heute zwar perfekt gendern, aber
viele wissen nicht, was der Konjunktiv ist. Die Grammatik
ist nun einmal das Fundament der Sprache und keine
Lappalie, denn ohne sie können wir uns überhaupt nicht
verständigen.
Gerade die Unkenntnis des Konjunktivs ist verräterisch,
denn sie weist auf ein analytisches Problem hin. Wer grammatikalisch
nicht mehr sauber trennt zwischen den Ebenen
der indirekten Wiedergabe, der Tatsachen und der eigenen
Wertungen, vollzieht diese methodisch notwendige Trennung
auch inhaltlich nicht. So wird dann etwa die bloße
Wiedergabe einer Position schon als Parteinahme verstanden
oder es wird etwas als Tatsache gesetzt, was eine bloße
Weltanschauung ist. Das Gendern gehört dazu.
Es ist nicht die ewiggestrige Litanei der Älteren über den
Bildungsverfall der Jüngeren. Es geht nicht um einen kul129
turkritischen Abgesang des Abendlandes. Das Problem
ist größer, denn die Politisierung der Sprache färbt die
öffentliche Debatte und hat einen erheblichen Einfluss auf
jene, die tagtäglich das Weltgeschehen beschreiben und
bewerten: die Medien.
130
Unantastbar
Wenn heute in europäischen Städten vermummte Truppen
durch die Straßen ziehen, unbehelligt mit Hakenkreuz
auf der Brust, offen gegen Israel demonstrierend, ist
das ein Fanal. Die schweigende Gesellschaft am Straßenrand
ist mittendrin. Politik und Justiz haben bislang nicht
angemessen darauf reagiert. Diese Seite einer unheilvollen
Geschichte darf sich nicht wiederholen.
„Einige sind niemand!“ – „Juden sind niemand!“ - So
lautete die zynische Staatsdoktrin der Nazis. Der Theatermacher
George Tabori hatte die Antwort darauf: „Jeder ist
jemand!“ Damit hat er das wichtigste Gebot unserer Zivilisation
auf den Punkt gebracht, die Unantastbarkeit der
Menschenwürde. Alle Schlussstrichfantasien und Relativierungen
der Geschichte, die in den verwirrten Hirnen
einzelner Unbelehrbarer herumgeistern, und der Versuch,
sich aus der Verantwortung zu ziehen, sind unerträglich.
Eine Zuschauerdemokratie ist gefährlich. Angesichts zunehmender
Gefährdung unserer westlichen Demokratien
gilt das Gebot der Wachsamkeit. Aufkeimender Hass und
Ausgrenzung müssen sofort im Keim erstickt werden.
Hass gegen Mitmenschen und Andersdenkende kommt
nicht plötzlich. Er zieht eine menschenverachtende Spur
durch die Geschichte. Er wächst mit dem skrupellosen
Selbstbewusstsein des Hassenden und mit der Gleichgültigkeit
der Gesellschaft. Feindseligkeit, Animositäten,
offene Hetze und unverhohlener Antisemitismus und
Rassismus finden ihre Plattform im Internet und in den
sozialen Medien. Die Verrohung der Sprache am Bier131
tisch, sowie die Hatz gegen Religionen und gegen alles
Fremde greifen schnell um sich, wenn sich die Gesellschaft
in unserer Demokratie nicht offen dagegenstemmt.
Hat sich unser Koordinatensystem bereits so verschoben,
dass wir gegen die schleichende Vergiftung unserer Demokratie
sichtlich immun geworden sind? Menschenrechte
sollen die Demokratie schützen; ohne diese gibt
es keine echte Demokratie. Würde, Freiheit und Souveränität
jedes einzelnen Menschen sind unantastbar. Jeder
Einzelne in der Gesellschaft hat die individuelle Pflicht
dafür einzustehen.
132
Verrohung des Denkens
Die von langer Hand vorbereitete Razzia gegen die
„Reichsbürger“ hat uns gezeigt, dass die Behörden in der
Bundesrepublik Deutschland gewappnet und in der Lage
sind, sofort und robust eingreifen zu können. Trotzdem
ist es beunruhigend, nicht zu wissen, was sich da an den
linken und rechten Rändern der Gesellschaft abspielt –
und zwar nicht nur bei unseren Nachbarn, sondern auch
bei uns.
Die Erfolgsgeschichte Deutschlands und Österreichs hat
mit der Stabilität der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg
zu tun. Nicht zuletzt waren es die fundamentalen
Grundsätze, die Kanzler wie Brandt, Schmidt und Kohl in
Deutschland oder Raab und Kreisky in Österreich, trotz
gegensätzlicher Gesinnung, miteinander verbanden: Es
waren die Stärkung der Mitte unserer Gesellschaft und die
strikte Abgrenzung gegen jeden Extremismus.
Die Klarheit dieser politischen Gedankenwelt scheint in
den letzten Jahren verdampft. Es hört sich an wie eine
böse, skurrile Realsatire, wenn heute plötzlich ein abgehalfterter
Prinz auftaucht und mit einer kompletten
Regierungsmannschaft im Ärmel und umsturzbereiten
Soldaten die Demokratie erschüttern will.
Wie konnte es soweit kommen? Es ist die Verrohung des
Denkens und der Sprache und es ist das Wühlen in albernen
Verschwörungstheorien, die sich an den gesellschaftlichen
Rändern, links und rechts, breitgemacht und
etabliert haben. Jetzt ist es Sache der Behörden nachzuspüren,
wo sich Umsturzfantasien eingenistet haben und
133
wie tief bereits die Strukturen der „Reichsbürger“ in der
Gesellschaft ausgeprägt sind.
Alle Freunde einer liberalen Demokratie müssen zur
Kenntnis nehmen, dass die Rechtsstaatlichkeit von der
Wehrhaftigkeit und dem Respekt vor dem Gesetz, vor
dem alle gleich sind, abhängt.
134
Woher kommt diese Gewalt?
Wir sollten genau hinschauen. Wieso treten junge Männer
mit Migrationshintergrund, größtenteils hier geboren
und aufgewachsen, oft so aggressiv auf. Weshalb greifen
sie sogar die Feuerwehr an, wie in der Silvesternacht geschehen.
Warum haben sie offenkundig so viel Spaß an
der Gewalt? Ein Versuch, es zu verstehen.
Der Hintergrund und die Mentalität in den migrantischen
Communities spielen eine große Rolle. Natürlich könnten
es die patriarchalischen Strukturen mit häuslicher Gewalt
sein, in denen diese Jugend aufwächst. Natürlich leben
viele in prekären Verhältnissen und verbauen sich selbst
die wenigen Perspektiven, die ihnen die Gesellschaft lässt.
Sie fühlen sich ausgegrenzt. So eng, wie manchmal ihre
Wohnungen, so klein ist ihre Welt. Sie können nie sie
selbst sein und werden in moralische Korsetts gezwängt.
So wachsen viele Jugendliche mit Feindbildern auf und
sind leider selbst oft ein Feindbild für Menschen, die vor
Angst die Straßenseite wechseln, wenn ihnen ein 17jähriger
mit dunkler Haut und schwarzem Bart entgegenkommt.
Vermutlich lesen und hören diese Jugendlichen
selbst, wie rückständig, kriminell und gewalttätig sie sind.
Für sie gibt es nur ein Schwarz-Weiß im Denken.
Leider hat sich in unserer Gesellschaft kaum ein liberales
Verständnis des Österreicherseins durchgesetzt, das nicht
auf Ethnien basiert, sondern auf staatsbürgerlichem Verständnis
mit Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit. Dies
bedeutet, dass man sich mit fremden Wurzeln in der Gesellschaft
anders wahrnimmt und definiert. Es bleiben
135
für viele offensichtlich nur zwei Seiten: Ausländer oder
Verräter. Entweder man schlägt zu oder man ist ein Feigling.
Die Krise dieser jungen Menschen trifft die kollektive
Identitätskrise unserer Gesellschaft.
136
Die Angst vor dem Superhirn
Welches Ende droht der Menschheit: der Klimatod, eine
neue Pandemie, ein Blackout oder gar ein Atomkrieg?
Auf dem Markt der Hysterien ist es jetzt die pure Angst
vor der Künstlichen Intelligenz (KI). Gemeint ist das
Sprachmodell ChatGPT (Chatbot Generative Pretrained
Transformer), einem Superhirn, bei dem wir über eine
Texteingabe mit unserem Computer menschenähnlich
kommunizieren können. Der letzte Schrei ist die neueste
Version GPT4, die sich sogar selbst Befehle ausdenken
kann.
Führende Wissenschaftler und Zukunftsdenker, darunter
der Bestsellerautor Harari, haben die Gefahr erkannt
und in einem offenen Brief eine sofortige Pause für dieses
„gigantische Experiment“ der Künstlichen Intelligenz gefordert.
Sie warnen davor, dass „nichtmenschliche Intelligenzen
uns zahlenmäßig und geistig überlegen seien,
uns überflüssig machen und wir sogar die Kontrolle über
unsere Zivilisation verlieren könnten.“ Für Elon Musk,
der eigene KI-Pläne verfolgt, sind diese Chatbots bloß
sprechende Papageien, weit davon entfernt, ein Bewusstsein
zu entwickeln.
Die Wucht der Künstlichen Intelligenz ist kaum noch
aufzuhalten, schon gar nicht von Datenschutzbehörden,
die noch mit dem Faxgerät operieren. Umso wichtiger ist
es, schnell technische und ethische Standards zu klären.
Nicht nur Paranoiker und Sektierer glauben, dass wir in
einer Zeit leben, in der sich die Geschichte der Menschheit
entscheidet.
137
Niemand, der Zukunftsbegeisterung mitbringt, kann sich
dem Sog dieser neuen Welt entziehen, die da auf unseren
Bildschirmen zu Tage tritt. Der denkende Mensch sollte
jedoch die Gefahr erkennen, die von einem globalen
Superhirn ausgehen kann, das in Millisekunden Zugriff
auf die Politik und auf das gesamte Weltgeschehen hat.
138
Bollwerk gegen digitale Willkür
Die Stimmung der Menschen in unserem Land ist im
Eimer. Die einen haben Angst vor Veränderungen und
die anderen sehen uns vor dem Niedergang. Brisant wird
diese Unsicherheit überall dort, wo die Coronapandemie
ideologische Frontverläufe aufgeworfen hat: Plötzlich stehen
sich in unserer Gesellschaft radikale Glaubenskrieger
gegenüber – bewaffnet mit zornigen Parolen und wilden
Verschwörungstheorien. Einig sind sie sich eigentlich nur
in einem: im Versagen des Staates.
Wohin steuern Demokratie und Gesellschaft in Österreich?
Sofort helfen kann wohl nur eine mutige und ehrliche
Form des Regierens. Der größte Fehler wäre jedenfalls,
die Impulse zu vergessen, die uns die Pandemie
gegeben hat: jenen zur Solidarität und vor allem jenen zur
Digitalisierung. Corona ist sicher eine ein wenig übertriebene,
aber durchaus reale Kostprobe der Zukunft, nämlich
einer stärker vernetzten Welt und Wirtschaft. Jetzt
muss die Arbeit der Verwaltung, Schulen, Universitäten,
Unternehmen und Verlage durch optimale Digitalisierung
erleichtert und resistent gemacht werden. Die Pandemie
hat den Zustand unseres Landes schonungslos offengelegt.
Bei der Digitalisierung der öffentlichen Prozesse und
Glasfaser-Infrastrukturen haben wir enormen Aufholbedarf,
wie internationale Rankings belegen.
Eigentliche Herrscher der Welt sind eine Handvoll amerikanischer
Technologiekonzerne. Fast 90 Prozent der
mobilen Internetsucher starten weltweit bei Google, 99
Prozent der Smartphones laufen entweder auf Google
139
oder Apple Betriebssystem. Nicht erst in der Pandemie
haben wir erfahren, was für manipulativer Unsinn in den
sozialen Netzwerken gezielt verbreitet wird. Deren Echokammern
bedrohen unsere Demokratie. Aber wir sind
nicht ganz machtlos.
140
Verwüstete Weltstadt
„Alle Religionen sind hier, dann begannen Politik, Verlogenheit
und Uneinigkeit zu herrschen, Gott bestraft sie,“
sagt der obdachlose Mehmet Ismet. Sein Antakya, früher
Antiochia, zählte einst zu den Metropolen des Altertums,
war die Hauptstadt Syriens und Sitz eines christlichen
Patriarchen. Die Liste der Katastrophen ist lang und das
Erdbeben am 6. Februar 2023 hat diese türkische Stadt
weitgehend zerstört.
Über tausend Jahre lang war die Habib-Najjar-Moschee
Begegnungsstätte von Zivilisationen und wurde von
Christen, Muslimen und Juden verehrt. Jetzt liegt sie in
Trümmern. Auch die griechisch-orthodoxe Kirche gibt
es nicht mehr, die Wände der Synagoge weisen Risse auf,
der alte Basar ist eine Ruine.
Neben Rom, Alexandria, Karthago und später Konstantinopel
war Antiochia ein Zentrum des Römischen Weltreichs.
Die Apostel Petrus und Paulus gründeten hier eine
der ältesten christlichen Gemeinden. Die Stadt erlebte
Blütezeiten und Niedergänge, Erdbebenkatastrophen und
Invasoren. 638 eroberten die Muslime Antiochia und vom
10. Jahrhundert an wechselten sich Byzantiner, Muslime,
Kreuzritter und Mamluken in der Herrschaft ab.
Am Ende geriet Antakya noch einmal in die große Politik.
Aus der Konkursmasse des Osmanenreiches ließ sich
Frankreich 1923 vom Völkerbund das Mandat über Syrien
und Libanon übertragen. Dem wurde auch der sogenannte
Sandschak Alexandrette (Iskenderun) zugeschlagen, zu
141
dem die alte Metropole gehörte. Schließlich erhob Kemal
Atatürk Anspruch auf dieses Gebiet.
Viele Bewohner wanderten nach Europa aus. Unter den
christlichen und alevitischen Gemeinschaften und den
syrischen Flüchtlingen kommt es immer wieder zu Spannungen.
Antakya war schon vor dem Beben ein Schatten
seines alten Selbst.
142
Dankbarkeit vergessen
Einst jubelten die Menschen und dankten dem „lieben
Gott“ nach überstandenen Pandemien. Und wir nach
Corona? Unsere Welt, unser Alltag sind seelenlos geworden.
Die moderne Gesellschaft ist darauf programmiert,
zu funktionieren. Der Alltag ist ein System, wo alles ineinander
verzahnt und voneinander abhängig ist. Wenn wir
nicht gegensteuern funktionieren wir künftig nur noch
wie Maschinen.
Auch die Pest endete irgendwann nach langer Zeit. Anders
als heute wurde ihr Ende in Dankbarkeit und Demut
gefeiert. Richtig eingreifen konnte der Mensch ja damals
nicht. Folglich dankte er Gott, dem großen Unbekannten.
An ihn glaubte man trotz allem, weil nichts und niemand
anders denkbar war. Die meisten unserer Zeitgenossen
lächeln milde über diesen naiven Glauben. Aber dokumentiert
diese Naivität nicht doch eine überirdisch-metaphysische
Dimension des Seins?
Das Ende der Corona-Pandemie wurde behördlich proklamiert.
Anders als in der Vergangenheit ist es für die
Menschen nicht mehr Gott, der das Ende der Pandemie
verfügte, vielmehr wurde es durch herausragende Forschung
ermöglicht. Warum ist eigentlich bislang niemand,
weder bei uns, noch in der EU, noch bei der UNO auf
die Idee gekommen, des Pandemie-Endes zu gedenken
und den Bezwingern dieser Seuche national und global
zu danken?
Was das Forscherpaar Özlem Türeci und Ugur Sahin
sowie andere Forscher schafften, ist weit mehr als der
143
Höhenflug der Pfizer- und Moderna-Aktien, es bleibt
ein dauerhafter Dienst am Menschen. Gehören Wunder,
Wirklichkeit und Menschlichkeit nicht irgendwie zusammen?
Mit oder ohne Gott, aber mit Seele. Dankbarkeit
gebührt nicht nur den Forschern, sondern auch unseren
Mitbürgern, die sich als Schicksalsgemeinschaft fühlten
und handelten.
144
Ich lebe gern in diesem Land
Wenn ich heute die Zeitungen durchblättere oder den
Fernseher einschalte, halte ich es kaum für möglich: Geht
das noch? Alles wird runtergemacht: Die Corona-Maßnahmen
nahmen uns die Freiheit, wir versinken in Korruption,
die Wirtschaft verpasst die Zukunft, die Schulpolitik
und überhaupt die Bildung sind unter aller Kanone,
unsere Ersparnisse sind dahin, die Kriminellen tanzen der
Polizei auf der Nase herum… armes Österreich!
Wovor müssen wir eigentlich Angst haben? Wenn es klingelt,
ist es Amazon und nicht einer vom Geheimdienst.
Nein, bei uns ist längst nicht alles Ordnung. Manche Politiker
möchte ich am liebsten aus dem Verkehr ziehen,
wenn sie wieder einmal Widerwärtiges daher rülpsen.
Aber ich kann unserem Rechtsstaat vertrauen, dass all
diese unappetitlichen Chat-Nachrichten und alles, was
nach Korruption schmeckt, aufgearbeitet wird. Dass alles
teurer wird und wir jeden Euro dreimal umdrehen müssen,
allein unserer Wirtschaft in die Schuhe zu schieben,
ist purer Populismus, geht’s doch halb Europa gleich.
Österreich wird zu Recht vom Rest der Welt um vieles
beneidet, um unsere Freiheit, unseren Wohlstand, um
unsere Universitäten, um die Gastlichkeit, um die Urlaubsmöglichkeiten
in einer wunderbaren Natur … um
die schlichte Tatsache, dass hier (fast) alles funktioniert.
Ich lebe in einem Land und in einer Stadt, die von vielen
Nachbarländern um ihr staunenswert gutes Verkehrsnetz
beneidet werden. Ich komme überall billig hin.
145
Die Fundamentalmeckerei wandert stets von links nach
rechts und umgekehrt, ebenso tut dies der Patriotismus.
Je nachdem halt, wer gerade am politischen Drücker sitzt.
Noch eins, trotz der leidigen Söhne-Töchter-Stotterei bin
ich immer noch stolz auf unsere Bundeshymne.
146
Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zählen
heute zu den prosperierenden Ländern in der europäischen
Staatengemeinschaft. Wie schwer nach der sowjetischen
Herrschaft die Geburtsstunden in die neue Zeit
waren, soll dieser Aufsatz am Beispiel Litauens nach einem
Besuch im Jahr 1992 zeigen.
Erster Frühling in Freiheit
Mai 1992 in Vilnius. Die Menschen kommen und gehen
– die Kathedrale St. Stanislaus in der Altstadt am Fuße
des Burghügels der Oberen Burg, von Stalin einst zur
Kunsthalle umfunktioniert, bleibt den ganzen Tag voll.
Die Gläubigen haben ihre beliebte Kirche wieder zurückerobert.
Auf dem Kathedralen Platz neben dem freistehenden
Glockenturm verkauft eine alte Frau abgegriffene
Heiligenbilder und schlichte Anstecknadeln mit religiösen
Motiven. Die Esten seien die Ökonomen, die Letten
die Politiker und die südlichen Litauer zuständig für das
Geistige, sagte man zu Anfang des Umbruchs, als die drei
baltischen Staaten nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums
urplötzlich wieder in die Freiheit entlassen
wurden.
Christianisiert wurden die Litauer erst 1386 per Federstrich
und als eines der letzten Völker Europas. Für die
Krakauer Hochzeit, die das polnisch-litauische „Commonwealth“
begründete, musste Großfürst Jagiello von
Wilna in aller Eile noch getauft werden. So war die Stanislaus
Kathedrale über Jahrhunderte eine polnische Kirche.
Sie sehe aus wie ein griechischer Tempel oder ein pol147
nisches Staatstheater, schrieb Alfred Döblin und nannte
ihren eigenwilligen Baustil „Weichselantike“. In dieser
Stadt unmittelbar an der weißrussischen Grenze stießen
seit alters her die Kulturen aufeinander und es entstand
ein verschnörkeltes Mitteleuropa. Das polnische Element
behielt auch in den ersten Jahren der litauischen Unabhängigkeit
die Oberhand. Das wiedererstandene Polen
nahm die Stadt 1921 in einem Handstreich dem jungen
Nachbarland Litauen ab. Erst nachdem Hitler und Stalin
im Herbst 1939 Polen erneut geteilt hatten, erwirkte die
Sowjetunion die Rückgabe der historischen Hauptstadt
an Litauen. Doch die Tage des kleinen Landes waren bereits
gezählt. Fortan sollten die Menschen, egal ob Litauer,
Weißrussen, Ukrainer oder Polen, nur noch als Produktions-
und Verwaltungseinheiten zählen.
Der Busfahrer in seinem alten „Ikarus“ weiß genau Bescheid
über seine wiedergewonnene Heimat. „Mit unseren
65.000 Quadratkilometern sind wir nur ein kleines
Land, aber…!“, sagt er nicht ohne Stolz. Etwa 80 Prozent
der 3,7 Millionen Einwohner sind Litauer, neun Prozent
Russen und sieben Prozent Polen, die vorwiegend im Süden
vor allem im Großraum der Hauptstadt leben. Und
sie leben alle unter sich. Die Litauer haben eben litauische
Bekannte und die Polen verkehren mit Polen. Seitdem die
Baltenrepublik im August 1991, nach dem gescheiterten
Putsch der Kommunisten in Moskau, international wurde,
hat sich auch die Lage zwischen Litauen und Polen
entspannt. Der Sprachenbeschluss wurde ja schon unter
dem Druck der tragischen Ereignisse vom Jänner 1990
revidiert: Damals waren beim Angriff einer sowjetischen
148
Eliteeinheit auf das Fernsehzentrum von Vilnius 17 unbewaffnete
Demonstranten getötet worden.
Jetzt, 15 Monate danach, legen Frauen und Kinder täglich
frische Blumen bei den Gedenkkreuzen dieser Opfer
nieder und entzünden Kerzen. Ernst, still, versunken im
Gebet. Die Toten sind zu Märtyrern geworden. „Es ist
so schwer darüber zu sprechen, es war so lustig, bis die
Panzer kamen“ - und nach einer Pause – „heute ist ja,
Gott sei Dank, alles anders“ meint Julia, eine 22jährige
Studentin. Es klingt zuversichtlich. Die verhaltene Wut
der Menschen richtet sich heute gegen die sowjetischen
Soldaten, von denen eineinhalb Jahre nach der Öffnung
immer noch 45.000 im Land stationiert sind. Für die
Touristen ist diese Besatzungsarmee unsichtbar, aber für
Litauer allgegenwärtig in den Kasernen. Erst jüngst hat
Präsident Vytautas Landsbergis den beschleunigten Abzug
der GUS-Truppen aus Litauen verlangt. Sie sollten bis
1994 das Land verlassen.
Die verhaltene Wut der Menschen richtet sich gegen das
Erbe, das die Sowjets hinterlassen haben. Es ist der geistig,
moralische Schutt des Sozialismus, der die Menschen
über Jahrzehnte zermürbt hat. Nun gibt die Jugend Hoffnung
mit ihrem Willen zum Aufbruch in eine neue Zeit.
Arbeitslosigkeit gibt es bisher nicht, aber die Inflation ist
horrend. Die Löhne sind zwar im Vergleich zur Wendezeit
um das Siebenfache gestiegen, die Preise aber um das
Acht- bis Zehnfache. Der monatliche Durchschnittsverdienst
beträgt derzeit um die 3000 Rubel (etwa 300 Schilling).
Wie kann eine Familie damit leben? „Brot und Milch
sind billig“, sagt die promovierte Germanistin Audra, „je149
der muss sich halt irgendwie etwas dazu verdienen“. Ob es
dazu reicht, um 2500 Rubel den Führerschein zu machen
oder sich um 5000 Rubel neue Autoreifen anzuschaffen?
Was soll`s, ein neues Auto ist für die Litauer in diesen
Tagen sowieso ein unerfüllbarer Wunsch. Da gilt es zuerst
einmal die 500 Rubel für die Miete der Zwei-Zimmer-
Wohnung zusammenzukratzen. Das Deprimierende für
die Menschen ist das Wechselbad der Gefühle. Dauernd
hin und her gerissen zwischen Ängsten und Illusionen,
zwischen der Sorge, die große Chance zu verpassen oder
sich nicht mehr zurechtzufinden in der neuen Zeit.
Staatsbetriebe werden jetzt nach polnischem Muster in
Aktiengesellschaften umgewandelt, bis zu 30 Prozent der
Anteile können die Belegschaften erwerben. Jetzt wartet
alles auf den „Litt“, um den verhassten Rubel endlich
loszuwerden. Die Einführung der neuen Währung wird
jedoch immer wieder verschoben. Im Straßenbild machen
sich bereits die ersten Joint-ventures ausländischer
Investoren bemerkbar. Eine amerikanische Computerfirma
wirbt mit überdimensionaler Leuchtschrift. Zwischen
Gebäuderuinen hat sich ein japanischer Konzern eingenistet.
Die mondäne Auslage ist ein Fremdkörper, kein
Passant bleibt stehen.
Die Kolchosen auf dem Land seien zwar seit dem 1. April
dieses Jahres offiziell aufgelöst, hört man, aber geändert
soll sich noch nicht viel haben, es mangle vor allem an
Maschinen. Dabei hat Litauen vor dem Zweiten Weltkrieg
mehr Milch und Fleisch produziert als das reiche
Dänemark. Die Litauer sind heute noch ein Bauernvolk.
Jeder Städter hat Verbindungen aufs Land; über Verwand150
te oder er baut auf einem kleinen Fleck selbst etwas Gemüse
an. Auch die Regierung hat dazu aufgerufen. „Mit
Kartoffeln, Kraut, Äpfeln und Pilzen ist jeder ausreichend
versorgt“, meint eine junge Frau.
Durch sanftes, welliges Land, an Wäldern und unzähligen
kleinen Seen vorbei, führt die gut ausgebaute Straße
nach Kaunas, der zweitgrößten Stadt des Landes. Vilnius
ist die Hauptstadt Litauens, Kaunas die Hauptstadt der
Litauer, heißt es. Man findet hier besser versorgte Läden,
private Valutahotels und zahlreiche Cafés. Weite Teile der
Altstadt sind renoviert. Die Stadt ist wohlhabender, die
Menschen geben sich selbstbewusster.
„Die vergangenen 50 Jahre haben überall ihren Stempel
hinterlassen, wir müssen jetzt näher nach Europa kommen“,
sagt Jouzas Jankauskas, Regierungsberater für Sport
und Tourismus. Er bezeichnet es als vordringlichste Aufgabe,
möglichst viele Tourismusobjekte und Hotels zu privatisieren.
Man stellt sich eine eigene Koordinationsstelle
für den Tourismus vor. Bei der Qualität seien die Gäste
noch bereit, ein Auge zuzudrücken, sagt Jankauskas. Aber
sei einmal der „Neugiertourismus“ vorbei, hätte Litauen
nur dann eine Chance, wenn das Land den Anschluss an
den westlichen Standard schaffe.
Was tut dem Land not – man spürt es fast überall – es
ist westliches Know-how. Ökologische Überlegungen
werden eine große Rolle spielen. Touristische Projekte
werden sich anpassen müssen, um gerade das historische
städtische Bild nicht zu stören. Ein Beispiel für eine
naturnahe Erholung ist durch die Wiederbelebung des
traditionsreichen Seebades Palange an der Ostsee gelunKonturen Hubert Oeggl
Studia Verlag Innsbruck
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung von
Mitteln des Landes Tirol im Förderbereich Literatur und Schrifttum
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, der Verbreitung,
der Speicherung in elektronischen Datenanlagen sowie der Übersetzung,
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© 2023 STUDIA Verlag
Herzog-Siegmund-Ufer 15
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http://www.studia.at
ISBN 978-3-99105-046-9
3
Inhaltsverzeichnis
Vorwort.................................................................................5
Die „gestundete Zeit“ ist sichtbar geworden...................9
Die Renaissance des Bösen..............................................15
Dunkle Schatten der Vergangenheit...............................21
Kyrill steht voll hinter Putin.............................................24
Russischer Kolonialismus.................................................30
Historische Naivität...........................................................32
Hunger als Kriegswaffe.....................................................34
Versagen des Abendlandes...............................................36
Aggression zielt auf alle....................................................38
Freiheit und Sklaverei.......................................................40
Zelebrieren der Intoleranz...............................................42
Die Welt, in der wir leben................................................44
Grenzen der Empathie......................................................46
Keine moralische Instanz.................................................48
Gute alte Zeit vorbei..........................................................53
Die politische Wahrheit....................................................55
Abgesang des Wertesystems.............................................57
Osteuropa tickt anders......................................................59
Der Brexit hat auch sein Gutes........................................61
Risse im Gefüge der Demokratie....................................63
Migration und Integration...............................................66
Die Migration gehört zu uns............................................68
Abschottung keine Lösung...............................................70
Wir leben in der Defensive...............................................72
Angst vor der Zukunft......................................................74
Universum „Brüssel“.........................................................76
Gespenst des Nationalismus............................................78
4
Der Gordische Knoten EU...............................................80
Neue Sprache der Macht..................................................82
Politische Ängste...............................................................84
Das Aushebeln der Demokratie......................................86
Machiavelli entdecken......................................................88
Neutralität zum Ersten …,...............................................90
Ideologisch nie neutral.....................................................92
Die Heimat hat Konjunktur.............................................94
Politik unter Dauerdruck.................................................98
Lieber Militär als Demokratie........................................100
Die Worte im Griff halten..............................................102
Klimapolitik in Zugzwang..............................................104
Über die politische Freiheit im Alltag.........................106
Ohnmacht und Zuversicht.............................................113
Über die Rettung der Debattenkultur...........................117
Gesellschaft bedarf Kirche..............................................120
Empathie nur hohler Begriff..........................................122
Privater Raum ging verloren..........................................124
Wir schrumpfen und vergreisen...................................126
Sprache färbt die Gesellschaft........................................128
Unantastbar......................................................................130
Verrohung des Denkens.................................................132
Woher kommt diese Gewalt?.........................................134
Die Angst vor dem Superhirn........................................136
Bollwerk gegen digitale Willkür....................................138
Verwüstete Weltstadt......................................................140
Dankbarkeit vergessen....................................................142
Ich lebe gern in diesem Land.........................................144
Erster Frühling in Freiheit..............................................146
5
Vorwort
Die Welt der Nachrichten dreht sich rasant. Ungefiltert
konsumieren wir täglich aus Zeitungen, Fernsehen, Radio,
Facebook, Twitter oder anderen sozialen Medien Meldungen
über Kriege, Terror und Katastrophen. Was können wir
davon glauben, zumal in der tagesaktuellen Berichterstattung
die Hintergründe kaum ausführlich erklärt werden?
Wo liegt die Objektivität, wo die Zuverlässigkeit in diesen
Nachrichten, die oft aus dubiosen Quellen den Weg in die
Wohnzimmer finden?
Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, wir müssen selbst
die Orientierung suchen und das eigene Weltbild schärfen!
Weit von jeglicher Besserwisserei will und kann ich natürlich
mit meinen Texten keine gültigen Antworten liefern.
Die einzelnen Kolumnen wollen nur relevante politische
und gesellschaftliche Problemkreise beleuchten, die mir besonders
wichtig sind. Dabei wird offenbar, die Krise dieser
Welt ist eine moralische Krise.
Nur ein Wiedererstarken der Moral und der Empathie kann
uns aus dieser Krise führen. In einer Zeit großer Instabilität
zeigt sich, dass sich jeder in der Gesellschaft auf seinen Mitmenschen
stützen muss. Vielleicht wird dann vieles besser,
wenn der Einzelne kein Werkzeug der Manipulation bleibt,
sondern die Menschenwürde wieder im Mittelpunkt steht.
Beim Schreiben dieser Aufsätze und Kolumnen – einige
sind schon in der Tiroler Tageszeitung erschienen – ging
es mir immer auch um eine stilistisch prägnante Kurzform
der Sprache, die den Kern des jeweiligen Themas auf den
Punkt bringt.
6
Ich habe versucht, Inhalte, die es zuließen, so aufzuarbeiten,
dass das Lesen dabei auch Spaß macht. Großer Dank gilt
meiner Gattin und dem Studia-Verlag Innsbruck, die mich
bei der Umsetzung dieses Projekts unterstützt haben. Ohne
sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.
Hubert Oeggl
7
Krieg – Terror
9
Die „gestundete Zeit“
ist sichtbar geworden
Mit den Worten „Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf
gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont“ beginnt
Ingeborg Bachmanns berühmtes Gedicht „Die gestundete
Zeit“. Wenn es vordergründig auch von verlorener Liebe
handelt, führt das 1953 veröffentlichte Gedicht doch auch
eine düstere Klage über den angeblich restaurativen Zug
der damaligen Zeit ohne wirkliche Zukunft. Da irrte sie,
denn es waren nach dem Zweiten Weltkrieg viele bessere
Tage gekommen.
Doch im Herbst 2023 haben die „härteren Tage“ tatsächlich
in erbarmungsloser Realität begonnen. Große Krisen
wie Corona, Russlands Überfall auf die Ukraine, Migration,
Krieg in Nahost. . . nähren die Ahnung, dass es nicht
gut ausgehen wird. Es ist, als wäre die Menschheit von
Krisen eingeschlossen. Sind wir verdammt, in Schockstarre
zu verharren? Doch es hat sich des Öfteren erwiesen,
dass freie Gesellschaften imstande sind, selbst große
Wirrnis zu bewältigen.
Die Pandemie
Binnen drei Jahren haben uns mindestens vier Großereignisse
überrascht. Corona hat gezeigt, dass es auch den entwickelten
Gesellschaften nicht gelungen ist, einem in die
Häuser schleichenden Virus zu entkommen. Es war wie
ein Zeitsprung Jahrhunderte zurück in eine von der Pest
gemarterte Zeit mit Millionen Toten in ganz Europa. Die
Corona-Pandemie hat uns völlig unerwartet heimgesucht
10
und tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Sie hat
aber auch die Ängste genährt, dass uns selbst die beste
Medizin nicht helfen kann.
Der Überfall
Wie nichtig und verletzbar die europäische Nachkriegsordnung
ist, hat uns der barbarische Überfallkrieg Russlands
im Februar 2022 auf die Ukraine gezeigt. Wenn sich
auch durch den Ukrainekrieg die freie Welt zu einer bislang
undenkbaren Einigkeit zusammengefunden hat, an
manchen Stellen beginnen die Mauern dieser Geschlossenheit
zu bröckeln. Von einer globalen Sicherheit, die
wir erwartet haben, ist in einem wenig selbstbewussten
Europa fast nichts mehr zu spüren.
Die Migration
Die Kraftlosigkeit europäischer Politik offenbart die Lösungsprobleme
der Migration. Es bedarf großer Einigkeit
unter den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union,
die Flüchtlingsströme stärker zu regulieren, illegal Zugewanderte
zurückzuschicken und die Grenzen zu schützen;
wohl wissend, dass damit das Thema Migration noch
lange nicht gelöst wird. Wie in Zukunft umgehen mit dem
Recht dieser Menschen auf würdiges Leben?
Das Heilige Land
Das Heilige Land ist ein Völkerfriedhof, auf ihm ruhen
die Kanaaniter. Weder die Palästinenser noch die Juden
sind ihre Nachkommen. Ihre Nachfolger hingegen waren
zahlreich. Sie alle hielten sich im Lauf der viertausendjährigen
Geschichte des Heiligen Landes für die wahren
11
Eigentümer.
Indem sie Land in Besitz nahmen, meinten
sie, es auch erworben zu haben, sagt der Historiker Michael
Wolffsohn. Alle Besitzer des Heiligen Landes, auch
Juden und Araber, trugen von Anfang an den Makel, Eroberer
zu sein. Die gewaltsame Einnahme des Heiligen
Landes war sozusagen ihr Geburtsfehler.
Seit über 150 Jahren tobt nun schon der unheilige Krieg
zwischen Juden und Araber um das Heilige Land. Wie unheilig
zeigt sich im Sommer 2014, dem Gaza-Krieg zwischen
der Hamas und Israel und im Oktober 2023, wobei
die Hamas-Terroristen mehr als 1400 Israelis umbringen,
mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder entführen und
die eigene Bevölkerung in Geiselhaft hält: hungernd und
als menschliche Schutzschilde. Die Absicht Israels, die
Hamas endgültig militärisch zu zerschlagen, ist mehr als
verständlich und rechtens.
Die Massaker der Hamas über Jahrzehnte hinweg haben
in unvorstellbarer Brutalität bewiesen, dass die israelischpalästinensische
Konfrontation kein „eingefrorener Konflikt“
gewesen ist. Seit 1948 nach dem Rückzug der Briten
und einer blutigen, von zahlreichen Terroranschlägen der
zionistischen Untergrundorganisation Irgun überschatteten
Staatsgründung, lebten die Juden in der Gewissheit,
dass es nach dem Holocaust jetzt einen Ort auf der Welt
geben wird, auf dem sie mit Sicherheit leben können. Diese
Sicherheit ist fragil geworden.
Um den Nahostkonflikt zu verstehen muss man weit in
die Vergangenheit zurückblicken. Um das Jahr 70 nach
Christus lebten viele Juden rund um die Stadt Jerusalem,
dem heutigen Staatsgebiet Israels. Nach der Zerstörung
des heiligen Tempels durch die Römer zerstreuten sich die
12
Juden in alle Welt. Die jüdische Diaspora. Dort, wo die
Juden gern ihren Staat errichtet hätten wohnten mittlerweile
andere Menschen, die arabischen Peleschet, daraus
wurden im biblischen Hebräisch die Pelitschim und im
Griechischen die Palästinenser. Im Kern geht also darum,
dass beide heute Anspruch auf das komplette Gebiet erheben.
In 15 Jahren Gewaltherrschaft war es der Hamas jedenfalls
wichtiger, Geld für Raketen und andere Waffen auszugeben,
als sich um die zivile Infrastruktur in Gaza zu
kümmern. Gaza ist der bei weitem schlechter gestellte Teil
der beiden gegenwärtigen Autonomiegebiete der Palästinenser.
Auf einem 40 Kilometer langen und rund 12 Kilometer
Streifen leben rund zwei Millionen Menschen de
facto in einem „Stadtstaat“, jedoch in einem schrecklich
verarmten Land unter argen humanitären Verhältnissen.
Gaza ist ein gutes Kampfgebiet für Verteidiger, aber ein
Albtraum für die palästinensische Bevölkerung, die dort
beinahe schutzlos Angriffen ausgesetzt ist und keine Verbindung
zum Westjordanland, das fast siebenmal so groß
wie Gaza ist, hat.
Die Hamas sind nicht „die Palästinenser“, vielmehr ist diese
Terrorgruppe eine der vielen Katastrophen, die das gepeinigte
palästinensische Volk ertragen muss. Die Hamas
ist ein Ableger der Moslembruderschaft, deren Grundsatz
ist die Todesindustrie: Sie bringt keine Wohlfahrt, keinen
Wohlstand, keine Bildung, sondern nur den Tod. Das darf
nicht vergessen werden, auch wenn im Westjordanland
viele Palästinenser jubeln. Sowohl die Hamas als auch die
Hisbollah im Libanon, die über ein gewaltiges Waffenarsenal
verfügt, sind Werkzeuge des Iran.
13
Um zu verhindern, dass es so weit kommen konnte, hätte
auch Israel mehr tun müssen. Gemäßigten Palästinensern
hätte man mehr Erfolge bescheren können, die vielleicht
zu mehr Rückhalt in der Bevölkerung für einen friedlicheren
Weg gewesen wären. Zu lange haben die Falken
und Hetzer in der zerstrittenen israelischen Regierung geglaubt,
das Problem mit den Palästinensern nur technisch
lösen zu können, mit meterhohen Mauern und Drohnen.
Eine provokante Siedlungspolitik tut dann ihr Übriges
dazu und stachelt den Volkszorn gegen Israel erst recht
auf. Die Stimmen der großen Mehrheit der Bevölkerung,
die sich immer wieder für ein mögliches Miteinander zwischen
Israelis und Palästinensern eingesetzt haben, verhallen
bis heute ungehört.
Ja, auch Europa hätte viel mehr tun können, um zur Lösung
des Israel-Palästinenser-Konflikts beizutragen. Mehr
Druck auf beide Seiten, doch Europa hat sich an den
Dauerkonflikt
gewöhnt und sich jeweils an die eine oder
andere Seigte geschlagen. Der Nahe Osten ist kein anderer
Kontinent. Er gehört zu jener Großregion, von der
auch unser Schicksal abhängt. Wie im Kampf gegen den
Aggressor Russland muss Europa auch in dieser Region
zeigen, dass wir glaubhafte Verbündete beider Seiten sind.
Die Parallelen zwischen den Schauplätzen Ukraine, Israel
und Gaza sind kein Zufall, sondern weisen auf einen
funktionalen Zusammenhang hin. Durch die migrationspolitischen
Folgen der Nahost-Krisen werden jene Parteien
in Europa groß, die Putin fördert. Wenn wir den
Nahen Osten links liegen lassen, werden wir ihn Russland
oder China überlassen. Wir drohen dann wieder in jene
energiepolitische Abhängigkeit zu rutschen, aus der wir
14
uns in Osteuropa gerade zu befreien versuchen. Und nach
wie vor gilt, wenn Juden und Araber nicht endlich einen
Schlussstrich ziehen und einen lebensfähigen Kompromiss
finden, werden eines Tages beide die Verlierer sein.
Wem gehört nun das Heilige Land wirklich? Es gehört
niemandem, es gebührt allen. Allen, die überlebt haben.
Allen die dort leben wollen oder dort leben müssen. Das
Heilige Land gehört den Überlebenden der verschiedenen
Völker, natürlich auch Juden und Arabern. Es in einen
Nationalstaat umzuwandeln ist unrealistisch, meint Michael
Wolffsohn. Es kann de facto nur eine Zwei-Staaten-
Lösung geben.
Das Vertrauen
Die „härteren Tage“ sind angebrochen, auch in Europa.
Für uns aber, die wir in diesem Europa und in einer Demokratie
mit gesicherter Gewaltenteilung leben, besteht
kein Grund angesichts der Einkreisung so vieler multipler
Krisen, in Ratlosigkeit und apokalyptische Sorgen zur
verfallen. Wir verfügen als liberale Demokratien über die
notwendigen Instrumente, auch „härtere Tage“ zu meistern.
Die Politik muss endlich lernen, über den Tag hinaus
und in Visionen zu denken. Die Gesellschaft muss lernen,
auf sich zu vertrauen.
Quellen:
Tim Marshall: „Die Macht der Geographie“
Michal Wolffsohn: „Wem gehört das Heilige Land“
Ingeborg Bachmann: Gedicht „Die gestundete Zeit“
15
Die Renaissance des Bösen
Faschismus ist eine Herrschaftsform, die Demokratie eliminiert,
jede Meinungsfreiheit im Keim erstickt, rassistisch
ist und bei der sich die willenlose Masse fanatisch um
einen Führer schart. Willkommen in Putins Unrechtsstaat
Russland! In beinahe drei Jahrzehnten hat er das eigene
Land unterjocht und entmündigt. Er hat sich de facto mit
Russland gleichgesetzt.
Der Faschist Wladimir Ilitsch Putin feiert jedes Jahr am
9. Mai den Sieg über den Faschismus, dabei verkauft er
seinem Volk den Antifaschismus seiner Ahnen noch immer
als das vielleicht wichtigste Identifaktionsmoment.
Es scheint, als leide er dabei unter etwas, das man Putin-
Syndrom nennen könnte. Im zweiten Tschetschenienkrieg
ließ er die Menschen „bis auf die Latrine jagen,“ wie
er selbst formulierte. Es gab damals Zehntausende Tote,
großteils davon Zivilisten, die auf sein Konto gingen. Mit
dem Einmarsch in die Ukraine wurde der Faschismus für
alle offenkundig.
Seine geistigen Väter Iljin und Dugin zeigen, dass der Putinismus
kein bloßer Autoritarismus, sondern lupenreiner
Faschismus ist. Im Westen ist Iwan Iljin außer wachsamen
Historikern nicht sehr bekannt, doch der Kremlherr und
sein innerer Kreis sind seit jeher begeisterte Leser der rassistischen
Schriften dieses Philosophen, der von vielen als
Ideologe des russischen Faschismus gilt. Er propagiert die
geistige und moralische Überlegenheit Russlands gegenüber
dem Westen sowie die Errichtung einer nationalen
Diktatur, gestützt von Kirche und Militär. Genau dieses
Bild von Russland hat Putin vor Augen.
16
Iljins Vorbilder waren Hitler und Mussolini und bis zu
seinem Tod im Jahr 1954 hielt er an seiner Vision eines faschistischen
„Heiligen Russlands“ unter einem nationalen
Führer fest. Es ist dieser messianisch-christliche Faschismus,
der Wladimir Putins Welt ist. Er war übrigens im
Jahr 2005 persönlich an der Überführung der sterblichen
Überreste Iljins aus der Schweiz nach Russland beteiligt
und veranlasste die Weihung des Grabes.
Der heute 62jährige Alexander Geljewitsch Dugin, Philosoph
und Politologe, ist heute der stärkste Verfechter des
russischen Faschismus. Er stachelt schon seit Jahren zum
Krieg gegen die Ukraine auf. In seinem Buch „Grundlagen
der Geopolitik“ kündigt er an, dass aus Russland
ein großes eurasisches Reich werden würde, welches, mit
Deutschland und Japan eine Achse bildend, die USA aus
Europa vertreiben und die Nato zerstören wird. Der Bestseller
wurde schon Ende der 1990er Jahre als Lektüre in
die russischen Militärakademien aufgenommen.
Imperiale Nostalgie
Wie in allen diesen Regimen geht es allein um imperiale
Nostalgie, Restauration und Expansionismus. Die Quintessenz
ist offensichtlich: Ein Land ist in ein anderes eingefallen,
hat Wohnviertel, Krankenhäuser und Schulen zerstört
und Tausende Zivilisten getötet. Möglicherweise stört es
den Kremlherrn Putin nicht einmal, wenn man ihn einen
Faschisten nennt in einem ideologisch verwirrten Land,
in dem vorgesagt wird, dass Stalin und Hitler die größten
Politiker der Geschichte seien. Menschenleben zählen für
Putin nicht. Tausende russische Teenager in Zinksärgen
nimmt er heute leicht hin, tote Ukrainer scheren ihn oh17
nehin nicht. CIA-Direktor William Burns sieht in Putin
schon „seit Jahren eine jederzeit entflammbare Mischung
aus Kränkung und Ehrgeiz“ brodeln. Durch massive Propaganda
wurde den Russen eine Gehirnwäsche verpasst.
Die Gesellschaft wurde durch paramilitärische, patriotische
Clubs für Jugendliche und Schulkinder militarisiert
und die Verbreitung von Kampfsportvereinen wird unterstützt.
Putin will sich am Ergebnis messen lassen, er strebt das
„dreieinige Volk“ der Russen, Ukrainer und Belarussen
an. Offensichtlich will er auf seine alten und radikalen
Tage die „Schmähung“ der Geschichte überwinden und
die Sowjetunion ein Stück weit wieder herstellen. Ein
Auslandskorrespondent bringt es auf den Punkt: Putin
hat den Westen ausgetestet (wie einst Hitler die Staatengemeinschaft)
und hat gelernt, dass die Lüge nur gewaltig
genug sein muss, um damit durchzukommen.
Noch heute plappern in Deutschland ehemalige DDRGrößen
wie Gregor Gysi die Nato-Lüge nach, eine Art
Dolchstoßlegende Putins. Wie hätte die Nato zu einem
Zeitpunkt zusichern sollen, keine Erweiterung anzustreben,
als ihr östliches Gegenstück, der Warschauer Pakt,
noch existierte? Was für Hitler das „bolschewistische Judentum“
war, ist für Putin der Westen, der ihm auf seinem
gestohlenen Boden in den Rücken falle und Umstürze
vorantreibe. Dass Demokratie, Marktwirtschaft, Freiheit
und Frieden schlichtweg attraktiver sind, versteht ein Faschist
natürlich nicht.
Das heutige Russland ist, wie alle faschistischen Regime,
ein expansionistischer, messianischer Staat, der auf die
Renaissance seiner vermeintlichen Größe und göttlichen
18
Mission bedacht sei, sagt der Historiker Michail Khodorkovski,
Professor an der Loyola University Chicago.
Frieden stehe jedoch im direkten Widerspruch zu den
Grundfesten einer solchen Gesellschaft.
Patriarch Kyrill mit an Bord
Wie seit jeher in der russischen Geschichte ist der russisch-
orthodoxe Klerus mit Leib und Seele an Bord, um
Putins Diktatur und seine Kriege vehement zu unterstützen.
Am 6. März 2022 verurteilte Patriarch Kyrill in einer
Sonntagspredigt die „falschen Freiheiten“ des Westens
und schrieb die Schuld für den Krieg den „Gay-Pride-
Paraden“ zu, die er als „gewaltsamen Zwang zur Sünde,
die von Gottes Gesetz verurteilt wird“, bezeichnete. Anscheinend
ist das Oberhaupt der russischen Kirche der
Ansicht, diese Paraden rechtfertigen Russlands schreckliche
Zerstörung ukrainischer Städte und die Tötung unschuldiger
Zivilisten, von denen die meisten ebenfalls
Mitglieder der orthodoxen Kirche sind.
Dies alles trägt Früchte. Die Mehrheit der russischen Bevölkerung,
auf Linie gebracht und infiltriert von einer
gewaltigen Propaganda, scheint den Ukrainekrieg zu
unterstützen, wenngleich dies angesichts der Informationsblockade
in Russland schwer zu beurteilen ist. Neben
der schweigenden Mehrheit gibt es die aktiven Befürworter,
die das Symbol „Z“ zeigen, das wie das Hakenkreuz
der Nazi ein Zeichen der Unterstützung für den nationalen
Führer und seine Politik geworden ist. Demonstrationen
gegen den Einmarsch in die Ukraine werden im
Keim erstickt.
19
Im Laufe der Jahre hat Putin einen enormen Repressionsapparat
mit Hundertausenden Polizeikräften aufgebaut,
die euphemistisch als „Nationalgarde“ bezeichnet werden.
Die Polizeieinheiten haben sich schon in den ersten Wochen
des Krieges gegen die Ukraine als brutal effektiv erwiesen
und Tausende von Demonstranten verhaftet.
Im Gegensatz zu anderen autoritären Regimen lässt der
Faschismus keine Mechanismen für einen Wandel von
innen zu. Es gibt nur zwei Wege, die dem Faschismus in
Russland ein Ende bereiten könnten: Der erste wäre ein
Staatsstreich, bei dem der Diktator abgesetzt wird, so wie
es die Verschwörer gegen Hitler 1944 erfolglos versucht
hatten. Der zweite wäre eine verheerende militärische
Niederlage. „Tatsächlich fanden wichtige Veränderungen
und Reformen in der russischen Geschichte nur als Folge
einer militärischen Niederlage statt. Russlands demütigende
Niederlage im Krimkrieg 1856 führte unmittelbar
zur Abschaffung der Leibeigenschaft, die Niederlage gegen
Japan 1905 zur ersten Verfassung und zum ersten Parlament,
die Niederlage im Ersten Weltkrieg zum Aufstieg
der radikalen bolschewistischen Partei und die Niederlage
in Afghanistan 1991 zum Zusammenbruch der UdSSR,“
listet der amerikanische Historiker Khodorkovksy auf.
Der Untergang der Sowjetunion verlief mehr oder weniger
gewaltfrei und wurde als friedlicher Übergang vom
Sowjetimperium zu den Nationalstaaten verkündet. Die
Gewalt freilich wurde nur um etwa dreißig Jahre hinausgezögert.
Wie sich herausstellte, hat sich Moskau und natürlich
Putin persönlich nie mit dem Untergang seines sowjetischen
Imperiums abgefunden. Der Zusammenbruch
der Imperien und das Entstehen von Nationalstaaten war
20
ein typischer historischer Prozess des 20. Jahrhunderts
und nur Nazi-Deutschland und das Russland unter Putin
entschieden sich dafür, ihre verlorenen Reiche mit Gewalt
wiederherzustellen.
Geopolitisches Desaster
Russland ist heute ein expansionistischer, messianischer
Staat, dem es um die Wiederherstellung seiner vermeintlichen
Größe und göttlichen Mission geht. Ein Frieden steht
dazu im direkten Widerspruch. Das faschistische Russland
kann entweder in Grenzen gehalten oder konfrontiert werden,
jedoch stehe angesichts des Ukrainekrieges eine Eindämmung
außer Frage, sagt Khodorkovksy.
Bis der Westen Russland militärisch konfrontieren muss,
scheint nur noch eine Frage der Zeit. Es geht inzwischen
um mehr als „nur“ um den Krieg existenzieller Konflikte
zwischen demokratischen, rechtsstaatlichen Gesellschaften
und einer zynischen Diktatur. Wladimir Putins Herrschaft
wird einmal enden, aber jedem Nachfolger muss
die Aufrechterhaltung von imperialen Ansprüchen verweigert
werden. Russland und die russische Gesellschaft
werden ihre Vergangenheit überwinden müssen.
Im Jahre 2005 bezeichnete Putin den Zusammenbruch
der UdSSR als die größte geopolitische Katastrophe des
20. Jahrhunderts. Jetzt hat er das schlimmste geopolitische
Desaster Russlands im 21. Jahrhundert herbeigeführt.
Quellen:
Alexander Dugin: „Grundlagen der Geopolitik“
Andreas Kappler: „Ungleiche Brüder Russen und Ukrainer vom Mittelalter
bis zur Gegenwart“.
Michael Khodorkovsky: „Wie man einen Drachen tötet“
Kathpress
21
Dunkle Schatten der Vergangenheit
Die wechselvolle und weitgehend asymmetrisch verlaufende
Geschichte der beiden „Brudervölker“ Ukraine und
Russland in einem kurzen Aufsatz abhandeln zu wollen,
ist ein Unding. Hier geht es vielmehr um ein dunkles
Kapitel
der jüngeren Geschichte der Ukraine, dessen lange
Schatten bis in unsere Tage reichen und bis heute noch
nicht aufgearbeitet wurde.
Zwei Bilder tauchen auf. „Denk an uns, deine jüngeren
Brüder“
appelliert der Metropolit von Kiew Iov Borećkyi
im Jahr 1624 an den Zaren Michail in Moskau. Dass ausgerechnet
ein Ukrainer die Russen um Hilfe bat, hat seine
Gründe darin, dass im frühen 17. Jahrhundert die orthodoxe
Bevölkerung im damaligen Polen-Litauen unter dem
Druck der Katholischen Kirche und katholischer polnische
Adelige stand.
Ein Hilferuf anderer Art erreichte Wladimir Putin 2014
vom geflüchteten ukrainischen Ex-Präsidenten Janukowitsch
nach dem Blutbad auf dem Maidan-Platz in Kiew:
„Diese Anführer seien Faschisten und Banditen, die wie
die Nazis in Deutschland an die Macht gekommen seien!“
Bis heute hat sich dieser Verweis auf eine faschistische
Ukraine in Russland festgesetzt.
Der Zweite Weltkrieg ist heute noch, trotz des gemeinsamen
Anteils an Krieg, Leid und Sieg, Gegenstand heftiger
erinnerungspolitischer Kontroversen zwischen Russland
und der Ukraine, nicht zuletzt deshalb, weil die Bevölkerung
der Westukraine erst 1939 gewaltsam in die Sowjetunion
eingegliedert worden ist. Durch den Hitler-Stalin22
Pakt besetzte die Rote Armee 1939 das östliche Polen,
Galizien und West-Wolhynien. Die Ukrainer in Galizien
bekannten sich zum Unterschied von den Russen und übrigen
Ukrainern zur mit Rom unierten Griechisch-Katholischen
Kirche. Für Stalin war die Besetzung ein Akt
der „brüderlichen Hilfe“ und die Wiedervereinigung des
seit Jahrhunderten getrennten ukrainischen Volkes eine
Selbstverständlichkeit. Nach Rumänien kam am Ende des
Krieges auch die ungarische Karpato-Ukraine dazu.
Im Zuge der Sowjetisierung wurden die meisten Vertreter
der jüdischen und ukrainischen Eliten verhaftet, mehr als
eine Million Menschen wurden in den Osten der Sowjetunion
deportiert. Sie wurden durch Russen und Ukrainer
aus anderen Gebieten ersetzt und der Einmarsch
der Deutschen im Sommer 1941 in Galizien als Befreiung
begrüßt. Im Gefolge der Deutschen zogen in Lemberg
Milizen der 1929 in Galizien gegründeten Ukrainischen
OUN ein. Bewaffneter Widerstand sollte eine weitere Diskriminierung
der Ukrainer und eine Polonisierung verhindern.
„In ihrer undemokratischen ethno-nationalistischen
Ideologie und ihrer Militanz trug diese OUN Züge einer
faschistischen
Bewegung,“ sagt der Historiker Andreas
Kappeler. Ihr wichtigster Ideologe Dmytro Doncov wollte
einen nationalen ukrainischen Führerstaat und vertrat
trotz seiner russischen Abstammung einen extremen Antirussismus.
Vor allem unter dem jungen Stepan Bandera
(1909 – 1959) wurden zahlreiche brutale Massaker auf
polnische Politiker und ukrainische Kollaborateure verübt.
Dass er für die Ermordung von bis zu 800.000 Juden
23
durch die Deutschen in der Westukraine verantwortlich
zeichnet, streiten seine Verehrer bis heute ab.
Stepan Bandera rief 1941 in Lemberg einen unabhängigen
ukrainischen Staat aus, dem die Deutschen jedoch bald
ein Ende bereiteten. Einheiten, der aus der OUN hervorgegangenen
Ukrainischen Aufstandsarmee UPA ermordeten
– von ukrainischen Bauern unterstützt – 1943 in
Wolhynien 50.000 bis 60.000 Polen, um Platz für ukrainische
Siedler zu schaffen. Erst in den 1950er Jahren war
diese Widerstandsbewegung am Ende. Deren Anführer
Roman Suchevyć erfuhr den Nimbus eines Freiheitskämpfers
und der 1959 in München von sowjetischen
Agenten ermordete Bandera wurde für viele zum nationalen
Märtyrer.
In der heutigen Ukraine werden die Rollen von OUN und
UPA unterschiedlich bewertet. Während sie in Galizien
von vielen Ukrainern als Helden im Befreiungskampf
gegen die Sowjets gelten, sehen Ukrainer im Osten und
Süden sie als Verräter. Inzwischen sind zwar die letzten
Anhänger des Bandera-Kultes aus dem ukrainischen Parlament
verschwunden, doch die Geister dieser russischfeindlichen
Ideologie sind in Kreisen der Bevölkerung
noch lebendig. Russen werden dabei als Erbfeinde der
Ukraine angesehen. Festzustellen bleibt, dass die Ukraine
die ultranationalistischen Verwerfungen während des
Zweiten Weltkrieges bis heute noch nicht aufgearbeitet
hat.
Quelle: Andreas Kappeler: „Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer“
Deutschlandfunk Archiv
24
Kyrill steht voll hinter Putin
Die Kritik am Kreml gehörte schon in der Vergangenheit
nie zum Repertoire des Moskauer Patriarchen Kyrill I.
In regelmäßigen Treffen zwischen Wladimir Putin und
dem Kirchenoberhaupt wurde stets die volle gegenseitige
Unterstützung im Kampf Russland gegen „die Kräfte des
Bösen“ beschworen. Auch bei einer Feier zum „Tag der
Verteidiger des Vaterlandes“ am 23. Februar 2022 behauptete
Kyrill wie der Kreml, dass Russland an seinen Grenzen
bedroht werde und legte Tage darauf in einer Predigt
nach: „Wir dürfen uns nicht von dunklen und feindlichen
äußeren Kräften verhöhnen lassen.“
Orthodoxes Kirchenverständnis
In diesem orthodoxen Kirchenverständnis ist auch keine
Zurechtweisung des Staates vorgesehen, wenn dieser Andersdenkende
maßregelt. Die Kirche erhob keinen Einspruch
gegen die Annexion der Krim im Jahr 2014, gegen
die Militäraktion im Donbass oder jetzt gegen die Umzingelung
der Ukraine. Tausende Menschen, die in diesen
Tagen in ganz Russland gegen den Krieg in der Ukraine
demonstrieren, tun dies ohne den Schutz ihrer Kirche.
Der Vorsteher der Russisch-Orthodoxen Kirche verstehe
sich als „Patriarch der ganzen Rus und Primas der Kirche,
deren Herde sich in Russland, der Ukraine und anderen
Ländern befinde“, betonte Kyrill am Tag des Überfalls der
russischen Truppen auf das Nachbarland. Die Begriffe
„Angriff “ und „Krieg“ vermied er dabei, und Wladimir
Putin erwähnte er mit keinem Wort.
25
Stattdessen forderte der Moskauer Patriarch sämtliche
Konfliktparteien auf, alles zu tun, um Opfer der Zivilbevölkerung
zu vermeiden, und erinnerte an eine gemeinsame
jahrhundertealte Geschichte zwischen dem
russischen und ukrainischen Volke, die auf die Taufe der
Rus zurückgehe.
Taufe der „Rus“ 998 – zentrale Verbindung
Dieses Geschichtsbild begründet die Gemeinsamkeit zwischen
Patriarchen und Präsident. Unter Großfürst Wladimir
I. fand im Jahr 998 die Taufe der „Rus“ in Kiew
und anderen Städten statt. Sie nahmen den griechischkatholisch
orthodoxen Glauben an und nannten sich
Prawoslawniji, das heißt Rechtgläubige. Wobei „Rus“ die
zu dieser Zeit in Kiew herrschende Dynastie bezeichnete
und nicht mit dem später entstandenen Russland identisch
ist. So gesehen ist Kiew geographisch und geistlich
eine zentrale Verbindung für die – übrigens erst 1943 bei
der Wiederherstellung des Patriarchates durch Stalin so
titulierte – Russisch-Orthodoxe Kirche.
Die Großfürsten und später die Zaren hatten auch in
kirchlichen Fragen das Sagen. Diese Staat-Kirche-Beziehung
ist vergleichbar mit der im Byzantinischen Reich
unter Konstantin.
Das Prinzip der „symphonia“
Es ist die das Prinzip der „symphonia“, wie es auch heute
Patriarch Kyrill vorlebt. Die Metropoliten bzw. Patriarchen
stützten den Staat und der Zar gewährte der Kirche
freie Hand, die sich so ungestört entwickeln konnte. Unter
26
Zar Peter I. dem Großen (1689 – 1725) band sich die Kirche
noch enger an den Staat. Der Zar ließ den 1700 frei
gewordenen Patriarchen Stuhl von Moskau unbesetzt. An
dessen Stelle trat der vom Zaren berufene „Heilige Synod“
als höchster Würdenträger der Kirche.
Seit der Zeit Peters des Großen machten sich in der russischen
Kirche protestantische Einflüsse stark bemerkbar.
Um Missstände abzubauen, zog Katharina II. die Große
das Kirchengut ein und sorgte selbst für die Besoldung
der orthodoxen Geistlichkeit.
Entfremdung von intellektuellen Eliten
In den folgenden Jahrhunderten unterlag die orthodoxe
Kirche in Russland einer völligen Kontrolle durch den
Staat und entfremdete sich dabei fast völlig den intellektuellen
Eliten. Dieser Zustand hielt bis zur Februarrevolution
von 1917 an, in der das Kaisertum abgeschafft wurde
und es auch keine Patriarchen mehr gab. Fortan wurde die
Kirche als Relikt aus früherer Zeit und als Unterstützerin
des Klassenfeindes verstanden und erbarmungslos verfolgt.
Unter dem fanatischen Kirchenhasser Lenin und
dann unter dem stalinistischen Terror kam es zu massenhaften
Verhaftungen. Millionen Russen verschwanden für
immer in sibirischen Gulags.
Die Rettung vor ihrer endgültigen Vernichtung brachte
ausgerechnet der Überfall der deutschen Wehrmacht auf
die UdSSR 1941. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen
erklärte sich die russische Kirche mit dem Staat
solidarisch und rief die Gläubigen zur Verteidigung des
Vaterlandes auf. Nach dem Krieg konnte die Kirche unter
27
großen Einschränkungen existieren. Nur dem Staat gegenüber
loyale Priester gelangten in Führungspositionen
und Bischöfe rühmten bei Auslandsbesuchen die Religionsfreiheit
in der UdSSR. Man entschied sich lieber für
Zusammenarbeit mit dem Staat als für eine offene Konfrontation.
Garant für traditionelle Werte
Dieser Zustand hielt sich bis zur Perestrojka unter Staatsund
Parteichef Michael Gorbatschow in den 80er Jahren
des vorigen Jahrhunderts. Langsam fand die Kirche wieder
ihre Rolle in der russischen Gesellschaft.
Unter Kaisern, Zaren und Parteisekretären konnte die
Kirche ein willfähriges Werkzeug des Staates oder der
Partei werden. Dieses von der Geschichte übernommene
Modell der „symphonia“ zeigt klar, die bis heute noch
nicht aufgegebene Abhängigkeit der Russisch-Orthodoxen
Kirche vom jeweiligen politischen Regime hat eine
lange geheiligte Tradition.
Wenn sich heute Wladimir Putin gerne öffentlich bekreuzigt,
weiß er genau, was der gläubige Russe gerne sieht.
Der Kremlherr braucht die Kirche als Garant für traditionelle
Werte, wie er sie versteht. Da passt es gut ins Bild,
dass sich Putin und Kyrill gegenseitig Orden verliehen
und die Kirche natürlich Putin bei den Präsidentenwahlen
unterstützte.
Für eine Eigenständigkeit der Ukraine haben weder Putin
noch der Patriarch Verständnis, daher auch der heftige
Widerstand gegen eine eigenständige orthodoxe Kirche
in der Ukraine.
28
Konfrontation mit Konstantinopel
Das 1992 nach der Unabhängigkeit des Landes gegründete
„Kiewer Patriarchat“ wurde zunächst von keiner
anderen orthodoxen Kirche anerkannt. Moskau verlieh
der „konkurrierenden“ orthodoxen Kirche (UOK) einen
autonomen Status. Kyrill vermied es allerdings, die Krim-
Diözese aus der UOK herauszulösen. „Die Grenzen der
Kirche werden nicht von politischen Präferenzen, ethnischen
Unterschieden oder gar Staatsgrenzen bestimmt“
erklärte der „Heilige Synod“ – die Kirchenleitung des
Moskauer Patriarchats 2014. „Die Kirche sei und bleibe
ein unveräußerlicher Teil unserer einheitlichen und multinationalen
Kirche“.
Für Moskau war es eine große Provokation, dass Patriarch
Bartholomäus I. von Konstantinopel als Ehrenoberhaupt
der Orthodoxie auf jahrelanges Bitten der Regierenden
in Kiew die Gründung einer unabhängigen orthodoxen
Kirche der Ukraine (OUK) auf den Weg brachte, der sich
die UOK nicht anschloss. Kyrill kündigte daraufhin umgehend
die kirchliche Gemeinschaft mit Konstantinopel
sowie mit allen Kirchen auf, die die neue autokephale Kirche
anerkannten.
In der Ukraine hat Kyrill bereits in den vergangenen
Jahren viel Vertrauen verspielt, und dies dürfte sich angesichts
seiner jetzigen Haltung noch verstärken. Selbst
die zu seinem Patriarchat gehörende UOK unter Metropolit
Onofri hat sich unmissverständlich zur „staatlichen
Souveränität und territorialen Integrität der Ukraine“ bekannt.
Ihre Bitte an Kyrill, sein hochpriesterliches Wort
zu sprechen, damit das brudermörderische Blutvergießen
29
auf ukrainischem Boden aufhört, und Putin aufzufordern,
den Krieg zu beenden, blieb bisher unerhört. Der staatshörige
Kyrill dürfte seinem Ziel der kirchlichen Einheit
von Moskau bis Kiew einen Bärendienst erwiesen haben.
Quellen:
Andreas Kappeler „Ungleiche Brüder Russen und Ukrainer vom Mittelalter
bis zur Gegenwart“
Kathpress
30
Russischer Kolonialismus
Wenn der Geschichtslehrer Wladimir Putin dem „Westen“
einen fünfhundert Jahre währenden Kolonialismus
vorwirft, leugnet er etwas ganz Entscheidendes: Russland
ist in Wirklichkeit Teil dieses Westens, nur eine Kolonialmacht
unter vielen. Die Eroberungen der Russen lagen
freilich nicht in Übersee, sondern auf eurasischem Gebiet,
Jahrhunderte von Gewalt, Ausbeutung und Assimilation,
wie wenige Beispiele zeigen.
Bei der Eroberung Sibiriens im 16. und 17. Jahrhundert
widersetzten sich Tataren und Jakuten erfolglos der russischen
Expansion. Heute lebt Russland zum Großteil vom
Öl und Gas aus diesem gestohlenen Land. Das seit dem
Ende des 18. Jahrhunderts russische Territorium in Alaska
verkauften die Zaren gar 1867 an die USA. Der Nordkaukasus
und die Schwarzmeerküste um Sotschi wurden
hemmungslos russifiziert, hunderttausende Tscherkessen
deportiert.
Wie selbstverständlich war das Zarenreich im 19. Jahrhundert
Mitglied des internationalen Kolonialismus Instituts
in Brüssel. Russische und ukrainische Bauern wurden
nach Zentralasien umgesiedelt, die ganze Region fiel bald
Moskau in die Hände. Die Unabhängigkeitsbestrebungen
der Ukraine nach dem Ende der Zarenherrschaft 1917
gingen gewaltsam unter, die Bolschewiken holten sich
dann gleich das unabhängige Georgien. Zehntausende
Esten, Letten und Litauer fielen der Deportation zum
Opfer, die Länder wurden russifiziert. Und – wie sieht
Moldawiens Zukunft aus?
31
Auch Freund Xi in Peking dürfte sich irgendwann erinnern,
dass große Teile der russischen Pazifikregion einst
chinesisch kontrolliert waren. Erst nach dem Zweiten
Opiumkrieg fielen sie an Russland. Wenn Putin und seine
Regimefiguren regelmäßig vom Selbstbestimmungsrecht
der Völker reden, ist das purer Zynismus.
32
Historische Naivität
Die gescheiterte Russland-Politik des Westens der letzten
Jahrzehnte ist auch in Deutschland erdacht worden. Niemand
hat so oft mit Putin verhandelt wie Angela Merkel
und ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Beide
haben Wladimir Putin nie einen „lupenreinen Demokraten“
genannt, sie waren nie korrupt und sie haben keine
Millionen von seinem Gas-Imperium kassiert, wie ein
Gerhard Schröder. Aber ihre und damit die Russland-
Politik des Westens ist mit dem Überfall Putins auf die
Ukraine historisch gescheitert an der Naivität, einem notorischen
Lügner und Geschichtsverdreher zu glauben.
Putin hat seine revanchistische Blut-und-Boden-Ideologie
jahrelang verfolgt, nur wollte sie im Westen niemand
wahrhaben. Er strangulierte nicht nur in seinem Russland
Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde, sondern
auch in Belarus und in den Autokratien des Kaukasus.
In Syrien halten seine Fassbomben auf Zivilisten den
Schlächter Assad immer noch im Amt.
Doch nicht nur das unbedarfte Europa hat Fehler gemacht.
Barack Obama hatte bald die Lust verloren, weiter
mit der „Regionalmacht“ Russland zu reden, nachdem ihn
Putin wieder und wieder belogen hatte: um die Ukraine
könnten und sollten sich fortan die Europäer selbst kümmern.
Diese Europäer waren damals Angela Merkel und
Francoise Holland. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.
Das Minsker Abkommen, das Putin jetzt in der Luft zerriss,
war der Versuch, einen Mann, der das Völkerrecht
mit Füßen tritt, in einen Rechtsprozess zu ziehen und so
33
einen Wortbrüchigen beim Wort zu nehmen. Die Separatisten
sollten regionale Wahlen und ein Sonderstatut
bekommen, sobald Waffenruhe herrsche. Die Ukraine
unterschrieb nur, weil sie schon damals Putins Revolver
an der Schläfe hatte.
34
Hunger als Kriegswaffe
Hunger war schon immer ein mitleidloser Begleiter des
Krieges, vom Altertum bis heute. Mariupol erinnert an die
wohl grausamste Belagerung der Geschichte, die Blockade
Leningrads durch Nazi-Deutschland. Ihr fielen 1,1 Millionen
Menschen zum Opfer, von denen etwa 90 Prozent
verhungerten. Es ist bezeichnend, dass eine der letzten
Überlebenden jener Belagerung nun zu denen gehört, die
gegen Putins Krieg demonstrieren – in eben der Stadt, die
heute wieder St. Petersburg heißt.
Was Mariupol erleben musste, ruft in der Ukraine aber
auch furchtbare Erinnerungen wach: an die von Stalin in
den 30er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ausgelöste
Hungersnot, die das Volk zerstören sollte. Damals wie
in diesen Tagen: es gibt kein Wasser mehr, Medikamente
fehlen, weil alle Krankenhäuser zerbombt sind. Die Nahrungsmittelversorgung
ist völlig zusammengebrochen.
Das Aushungern Mariupols rührt an historische Traumata
der Ukrainer aus eben dieser Zeit der sowjetischen Besatzung.
Moskau führte damals eine systematische Hungerkrise
in der besetzten Ukraine herbei. Der sogenannte
Holodomor löschte laut Schätzungen etwa vier Millionen
Menschen aus, es waren ungefähr 13 Prozent der damaligen
ukrainischen Bevölkerung. Stalin wollte den Widerstandswillen
der Ukrainer brechen und die Bauern bestrafen,
die sich der Zwangskollektivierung widersetzt hatten.
Die Geschichte wiederholt sich in dämonischen Parallelen.
Stalin wollte mit seiner „Russifizierung“ die kulturelle
Elite der Ukraine ausschalten, um die Vormacht der russi35
schen Kultur und Sprache zu sichern. Angriffe der Armee
Putins auf Museen oder die Zerstörung des alten Theaters
in Mariupol sind darauf ausgerichtet, Leuchttürme der
ukrainischen Kultur zu vernichten.
36
Versagen des Abendlandes
Der ums Überleben kämpfenden Ukraine gehören in
diesen Kriegstagen Schlagzeilen und Mitgefühl. Zurecht!
Doch, was ist mit den geschundenen Ländern des Morgenlandes
wie Afghanistan, Syrien, Irak oder Jemen? Der
Westen ist mit seiner rigiden Politik gescheitert, hat sich
schmählich verabschiedet und Flüchtlingsströme hinterlassen.
Schon vor hundert Jahren als die Kolonialmächte Frankreich
und England große Teile der arabischen Welt unter
sich aufteilten, war zu sehen, dass das Abendland das
Morgenland nie verstanden hat. Die Region sollte mithilfe
nationaler Grenzen stabilisiert werden. Unwissen
über Kultur, Tradition und Glauben gepaart mit latenter
Hochnäsigkeit führte zur Bevormundung mit zum Teil
katastrophalen Folgen. Die Taliban hatten leichtes Spiel.
Die Loyalität der Menschen gilt weiterhin den Stammesclans
und Ethnien. Glaubensgruppen wie Sunniten, Alawiten
oder Kurden brechen auseinander. Um Demokratien
zu installieren, wurde eher auf Kampfflugzeuge, Panzer
oder direkte Befehle aus dem Weißen Haus gesetzt, statt
Bildungssysteme zu reformieren, ohne patriarchalische
Strukturen aufzubrechen und ohne Aufklärung zur Mündigkeit.
Den Islam wollte man nie wirklich verstehen.
Die Religion bleibt wichtigste Instanz. Meinungsfreiheit
birgt das Risiko der Blasphemie und wird rigoros kontrolliert,
die Freiheit der Frauen massiv eingeschränkt. Eine
Demokratie, wie wir sie verstehen, will nur eine Minderheit.
37
Menschenrechte und Freiheit müssen Exportgedanken
Richtung Morgenland bleiben. Nur mündige Menschen
können dort Veränderung schaffen. Der Verzicht auf Teile
ihrer alten „Kultur“ zum Wohl einer neuen, stabileren
und besseren Lebensform muss der Antrieb sein. Dann
bleiben die Menschen auch in ihrer Heimat.
38
Aggression zielt auf alle
Wir stehen da in unserer halbwegs abgesicherten Welt,
die gerade dabei ist, eine Pandemie in den Griff zu bekommen,
und suchen nach Erklärungen: denn eine Formel,
wie einer blindwütigen Aggression zu begegnen ist,
haben wir nicht. Plötzlich erkennen wir, Europa war nach
1945 noch nie so ungeschützt wie in diesen Tagen. Diese
Aggression geht nicht von einem Land aus, sondern von
einem Denksystem, das Demokratie genauso hasst wie
Freiheit und das jegliche Menschenwürde missachtet.
Die russischen Attacken gegenüber der Ukraine zielen
natürlich auch auf unsere freiheitliche Gesellschaft.
Es tangiert uns sehr wohl, Länder im Umkreis unserer
europäischen Schutzzone plötzlich als Vasallen und Marionetten
degradiert zu sehen, deren Fäden von Moskau
aus gezogen werden.
Einst fungierten finstere Marxisten und kommunistische
Parteien in Westeuropa als trojanisches Pferd Moskaus,
heute sind es in ganz Europa autoritäre und rechtskonservative
Ideologen, die offen ihre Sympathien für den
Kriegsverbrecher Putin bekunden und denselben bei jeder
Gelegenheit hofieren.
Die freie Welt hat sowohl 2008 beim Angriff der russischen
Armee auf Georgien als auch 2014 bei der Besetzung
der Krim und Teilen der Ostukraine keine wirksame
Sprache gegen diese Aggression gefunden. Wenn es
schlimm kommt, werden wir wieder – wie damals im Prager
Frühling 1968 – mit Tränen in den Augen zuschauen,
wie russische Panzer durch die Ukraine rollen. Man sollte
39
sich die düsteren Sätze Henry Kissingers vergegenwärtigen:
Wenn der Frieden, gedacht als Verhinderung des
Krieges, oberstes Ziel einer Staatengruppe ist, hängt das
Schicksal des internationalen Systems vom rücksichtslosesten
Mitglied der internationalen Gemeinschaft ab.
40
Freiheit und Sklaverei
Im Lauf der Geschichte hat es sich oftmals wiederholt,
dass die Brutalität gewaltiger Armeen durch den menschlichen
Freiheitswillen gedemütigt werden kann. Heute
klingen die Thermophylen wie eine spannende Sage, aber
es geschah wirklich, dass eine Handvoll Spartaner dem
riesigen Perserheer die Stirn bot. In der Ukraine wiederholt
sich gerade dieser ewige Krieg zwischen Freiheit, Demokratie
und Sklaverei.
Europa und nahezu die ganze freie Welt, so scheint es,
befinden sich in diesen Tagen in der gleichen Situation
wie damals die griechischen Stadtstaaten der Antike. Eine
Invasion der enormen persischen Armee hat sie wieder
vereint und in ihnen das Bewusstsein ihrer gemeinsamen
Werte und Ideale gestärkt.
Die Thermophylen befinden sich jetzt in der Ukraine und
der Heroismus der leidenden Bevölkerung inspiriert und
verbindet. Derart hoffnungslose Kräfteverhältnisse schaffen
natürlich die Voraussetzung für Heldentum. Auch
Kiew könnte fallen und die Ukraine erobert werden, Selenskyi
und seine unerschrockenen Kämpfer sind definitiv
zum Mythos geworden.
Wenn wir den Sturm auf ukrainische Städte verfolgen,
blicken wir durch den Nebel der Geschichte auf diese 300
Spartaner, die einem immensen persischen Sklavenheer
trotzten. Auch Putins Imperium ist ein Sklavenhalterstaat,
der mit brutaler Hand regiert wird. Ebenso wie es
die ehemalige Sowjetunion war, in der der Kremlherr ja
beheimatet war und die er wieder errichten will. Es geht
41
nicht um das russische Volk, denn dieses hat er zuerst
unterworfen.
Putins Krieg weist jedoch eine historisch noch nie dagewesene,
beklemmende Einzigartigkeit auf. Es ist das erste
Mal, dass sich ein Mensch mit zitterndem Finger dem
roten Knopf der atomaren Apokalypse nähern kann.
42
Zelebrieren der Intoleranz
Wenn in Schweden oder Dänemark der Koran geschändet
und verbrannt wird, ist das kein legitimer Protest, sondern
symbolische Gewalt. In Europa hat zwar jeder das Recht,
jede beliebige Religion anzuerkennen oder den Kopf über
sie zu schütteln, wofür manche auch fleißig Vorlagen liefern.
Wer aber den Koran mit Füßen tritt, setzt sich nicht
kritisch mit seinen Inhalten auseinander, es geht ihm nur
um Hass. Eine neue Art des Fundamentalismus.
300 Jahre nach der Koranverbrennung in Spanien legte
Heinrich Heine in seinem Drama „Almansor“ dem zum
Christentum zwangskonvertierten Hassan die Worte in
den Mund: „Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt
man auch am Ende Menschen“. Das Feuer richtet sich nie
bloß gegen Bücher und ihre Gedanken. Es richtet sich
tatsächlich
gegen diejenigen, für die diese Bücher heilig
sind. So war es in Spanien nach der Reconquista, als Muslime
und Juden zwischen Taufe und Tod oder Vertreibung
wählen mussten. So war das auch in Deutschland, als im
Frühjahr 1933 Zehntausende Werke als „undeutsch“ verfemter
Autoren ins Feuer flogen. Eine Kulturbarbarei,
die zum Auftakt des Menschheitsverbrechens Holocaust
wurde. So ist es heute in Indien, wo Hindus Bibeln verbrennen.
Das Feuer ist das Gegenteil eines Arguments. Es ist das
Zelebrieren der Intoleranz und Propaganda für symbolische
Gewalt. Diese rechtsradikalen Täter dürften weder
Koran oder gar die Bibel gelesen haben. Es mag sein, dass
dieser Irrsinn in Schweden und Dänemark unter dem
43
Deckmantel der Meinungs- und Demonstrationsfreiheit
legal ist, bei uns ist er es gottlob nicht. Der einzige Zweck
dieses nihilistischen Kults zeichenhafter Gewalt besteht
darin, physische Gegengewalt zu provozieren.
44
Die Welt, in der wir leben
Selbstverständlichkeiten mussten wir in den vergangenen
Jahren viele über Bord werfen. Schon ab dem verhängnisvollen
Jahr 2008 ließen die Banken ihre Schulden vom
Staat bezahlen, der Euro wurde zur Haftungsgemeinschaft
und verliert nun inflationär an Wert. Begraben mussten
wir im Lauf der Zeit die Illusion einer Welt, die die Medizin
im Griff hat und uns Pandemien nie treffen werden.
Aufgeben mussten wir unsere bürgerliche Unabhängigkeit.
Reisen und Geselligkeit fielen Corona zum Opfer,
lästige Risiken und Nebenwirkungen drücken immer
noch das Zusammenleben.
Bis zum Februar 2022 haben wir offensichtlich in einer
Scheinwelt gelebt und geglaubt, dass im behaglichen
Nachkriegseuropa
ohnehin keine Nation eine andere
überfällt.
Von einem Tag auf den anderen werden wir
konfrontiert mit grauenvollen Nachrichten aus unserem
europäischen Nachbarland Ukraine: tausende Tote, zerstörte
Städte, verwüstete Landstriche, Millionen Vertriebene
und flüchtende Menschen.
Soziale Gerechtigkeit, die Gesundheit, der Frieden, die
Völkerfreundschaft – vieles verschüttet, gar verloren?
Worauf lässt sich in diesem Schmelztiegel falscher Gewissheiten
überhaupt noch bauen? Lasch nehmen wir
zur Kenntnis, wie die Zahl der Angriffe und Beschimpfungen
gegen jüdische Mitbürger zunimmt. Wird sich
der beschworene Klimaabgrund wie Armageddon auftun?
Eines ist gewiss: Je länger wir mit der Reduzierung
der Emissionen warten, desto schlimmer werden die
45
Auswirkungen in der Welt, in der wir leben.
Der verstörende Blick in die amerikanische Seele liefert
der Welt die pessimistische Konstante. Nach jedem
Amoklauf und Terroranschlag mit vielen Opfern – so lautet
die Faustregel – boomen regelmäßig die Aktienkurse
amerikanischer Waffenhersteller.
46
Grenzen der Empathie
Je länger dieser Krieg wüte, desto mehr ermüde er den
Westen, meinte ein ukrainischer Diplomat dieser Tage im
Deutschen Fernsehen und er fürchte die Gleichgültigkeit
der Menschen. Eigentlich gibt es ja auch kein einziges gutes
Argument dafür, nicht kriegsmüde zu sein, denn was
sollte irgendwie akzeptabel daran sein, dass man in diesen
Jahren immer noch vor Raketen, Panzern und einer
mörderischen Soldateska Furcht haben muss? Was sagt
es über diesen enthemmten Kriegsherren im Kreml aus,
der Städte, Dörfer und Kulturgut zerstören lässt und den
Menschen das bisschen, was sie sich erarbeitet haben, zerbombt?
Die Männer, Frauen und Kinder in der Ukraine sind
unendlich
kriegsmüder als wir. Gerade noch haben sie
ein normales Leben geführt, seit Monaten stehen sie an
der Front und müssen sich die Durchhalteparolen ihres
Präsidenten anhören. Dagegen ist unsere private Kriegsmüdigkeit
geradezu ein Luxusproblem. Nach (vorerst)
überstandener Corona-Pandemie stören uns die täglichen
Kriegsberichte und Schreckensbilder, denn hierzulande
ist so etwas wie „Normalität“ in den Alltag zurückgekehrt.
Kein Wunder, dass dieser aufgezwungene Krieg allmählich
aus den Schlagzeilen zu verschwinden droht und zur
Routineangelegenheit wird, denn plötzlich geht es uns um
Gaslieferung, Energiepreise, Inflation, den Preis an der
Tankstelle, die Brotpreise, den Urlaub und all die anderen
von Putin ausgelösten Verwerfungen. Täglich wird es
schwieriger, uns die Opfer abzuverlangen, die es dringend
braucht, um Sanktionen zu finanzieren.
47
Den Ukrainern gleichsam die Kapitulation zu empfehlen,
wie es eine selbstgerechte Gruppe Intellektueller um
Alice Schwarzer getan hat, war jedoch keine moralische
Großtat, sondern verständnislos, ein Freibrief für den
Aggressor.
48
Keine moralische Instanz
Wohin steuert bloß die UNO? Nichts davon ist Wirklichkeit
geworden, was sich Franklin Delano Roosevelt der
Gründervater der Vereinten Nationen in seinen Idealen
vorgestellt hat: Demokratien aller Himmelsrichtungen
sollten in einem Weltparlament die gemeinsamen Geschicke
ihrer Außenpolitik bestimmen. Der verbindende
Gedanke ist jedoch längst nicht mehr die Demokratie.
Es hat den Anschein, dass heute in erster Linie Autokraten
und Diktatoren in New York zusammenkommen, um
gegen den Westen zu agitieren und das westliche Wertesystem
zu schwächen. Ihr Hass auf Israel, der einzigen
Demokratie im Nahen Osten ist dafür ein Beispiel. Während
die Mehrheit der Staaten Israels Politik feindselig
gegenübersteht, gehören die Sympathien offen den Palästinensern.
Dass die Terrororganisation Hamas längst die
Bevölkerung im Gazastreifen unter Geiselhaft hält, wird
übergangen.
Wenn auch der Staat Israel auf den Teilungsplan der UN
von 1947 zurückzuführen ist, ist die Generalversammlung
der Vereinten Nationen seit dem Sechstagekrieg
von 1967 zu einem Forum des Israelhasses geworden. Es
ist ein Gemisch aus altherkömmlichem Judenhass, Neid
und Wut gegen den Westen und die Vorstellung, dass der
Zionismus die Erbsünde des Kolonialismus in sich trage.
Zweierlei Maß ist die Folge. Während der Iran mordet
und die Gesellschaft quält wie er will, während China die
Uiguren in Konzentrationslagern verkommen lässt und
die arabischen Ölmultis nach wie vor Sklaven halten, zeigt
49
sich der UN-Menschenrechtsausschuss halbherzig reagierend
immer milde.
Seit je ist das Völkerrecht eine Knetmasse in den Händen
der Staaten und wird immer nur dann angerufen, wenn es
sich gegen den gemeinsamen Feind verwenden lässt. Die
großen Staaten haben davon noch nie etwas befürchten
müssen. Sollte es doch einmal für sie brenzlig werden,
stimmt eben eines der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat
gegen eine Verurteilung.
Wenn sich der Sicherheitsrat seit Jahrzehnten selbst
blockiert, liegt das aber nicht am Vetorecht seiner fünf
ständigen Mitglieder. Hätte man dieses Vetorecht aufgehoben,
dann wäre das antidemokratische und antiwestliche
Agitieren in der UNO nicht mehr einzudämmen.
Der Sicherheitsrat ist gelähmt, weil die Mehrheit seiner
Mitglieder immer im Sinn hat, die westlichen Grundsätze
der UN-Charta außer Kraft zu setzen.
So ist die UNO dazu verurteilt, ein mehrsprachiger Verein
der Unverbindlichkeiten zu bleiben. Vielleicht sollte man
es so sehen: Allein das Gespräch miteinander kann nützlich
sein. Moralische Instanz ist die UNO jedenfalls keine.
50
ausweglos
ich bin
der war
und wurde
so werd
im leben selbst
ich wirklich
freuen lieben
schmerz klage
hofen
zukunft wo
der weg
h. oeggl
51
Politik – Demokratie
53
Gute alte Zeit vorbei
Der 24. Februar 2022 war der Tag, an dem endlich der
Schleier vor unseren Augen weggezogen wurde, denn die
Welt hatte sich schon seit mehr als zwei Jahrzehnte vor
dem Ukrainekrieg verändert. Von der guten alten Zeit zu
schwärmen, können sich jetzt nur noch Populisten leisten,
alle anderen müssen Gegenwart und Zukunft gestalten.
Grundlage unserer Freiheit ist es, den Menschen als unverwechselbares
Individuum mit unantastbarer Würde
zu sehen. Das unterscheidet uns von den Taliban, für
die Frauen rechtlos sind, von Putins Russland, wo junge
Männer bloß als Menschenmaterial zum Verheizen an
der Front verwendet werden, von China, das die Bürger
überwacht und Abweichler gnadenlos bestraft, oder vom
Iran, wo greise Mullahs Frauen töten, allein weil sie offene
Haare tragen.
Das Fundament des Westens, mit dem unsere Identität
verbunden
ist, ist die Aufklärung. Universell geltende
Menschenrechte,
Rechtsstaatlichkeit und Demokratie
prägten
nach den Erfahrungen verheerender Weltkriege
und des Holocaust die internationale und westeuropäische
Nachkriegsordnung. Ebendiese wird heute von Russland,
China, dem Iran und anderen in Frage gestellt.
Der Westen muss seine Werte leben, darf aber jenen, die
sie nicht teilen, nicht im Wege stehen. Wir sollten das
Gespräch suchen, nicht naiv, sondern deutlich mit klaren
eigenen Positionen und den Verweis auf rote Linien. Es
sind sehr große Aufgaben, denen sich westliche Politiker
künftig zu stellen haben. Fragen von Leben und Tod
54
wie beim Klimawandel, Fragen von Krieg und Frieden,
Fragen von Freiheit und Unterdrückung und vor allem
Fragen nach dem Gesicht einer zukünftigen internationalen
Ordnung. Mit Mechanismen des gewohnten Politikbetriebes
sind sie nicht zu beantworten.
55
Die politische Wahrheit
Das Wort Lüge hat in der Politik einen Kursverlust erlitten.
Ein leichtfüßiger Umgang mit der Wahrheit ist heute
längst salonfähig geworden. Demokratisch gewählte Politiker
und Abgeordnete können scheinbar behaupten was
sie wollen, ohne sich an die Tatsachen zu halten, geschweige
denn dafür mit Konsequenzen rechnen zu müssen.
Dem politischen Gegner wird unverblümt vorgeworfen,
ein Lügengebäude zu errichten, Fakten zu leugnen und
die Bevölkerung anzulügen.
Wenn durch Lügen eine gemeinsame Vertrauensbasis
zerstört ist, ist eine politische Zusammenarbeit schwer
möglich und die Menschen im Land wissen überhaupt
nicht mehr, auf wen sie sich verlassen können. Eine harte,
Missstände aufdeckende Opposition ist für das Verständnis
unserer Demokratie wichtig und unerlässlich.
Gefährlich wird es dann, wenn oppositionelle Wortführer
(weibliche inbegriffen) sich einbilden, allein den Schlüssel
der Wahrheit zu haben. Darin entsteht jenes typisch manipulative
Einbahnverhältnis, das die Menschen irritiert
und sie politisch lustlos macht.
Auch Donald Trump, Großmeister der Lüge, setzte diese
ein, um den Gegner zu diskreditieren. Er hielt es unbewusst
mit Niccoló Machiavelli und Friedrich Nietzsche.
Für den einen ist die Lüge ein legitimes Mittel zur Machtausübung
und für den guten Zweck, für den anderen ist
die Lüge göttlich. Dagegen unterschieden die alten Römer
und ihre Politiker sehr wohl zwischen Irrtum und Lüge.
Sie verurteilten die Lüge sogar dann, wenn das öffentliche
56
Wohl eine solche verlangen würde. Der in die Rechtsgeschichte
eingegangene Begriff der arglistigen Täuschung
ist demnach eine Leistung des römischen Geistes. Ohne
Verpflichtung zur Wahrheit fehlt die Achtung vor der
Würde des politischen Gegners.
57
Abgesang des Wertesystems
Es scheint, dass es mit dem Westen und seinen gern zitierten
hehren Werten nicht mehr weit her ist. Die desaströse
Vorstellung der Amerikaner beim chaotischen Abzug aus
Afghanistan passt genau so in dieses Bild, wie das Signum
einer verfluchten Mission, als einer der letzten ihrer
Drohnenschläge nicht Terroristen traf, sondern Kinder.
Ein derartiges Versagen auf allen Ebenen in den USA und
in vielen Ländern Europas wirft zwangsläufig die Frage
auf, in welchem Zustand sich die „westliche Wertegemeinschaft“
eigentlich befindet. Was ist daraus geworden, als
man sich nach dem Krieg aus ethischer Verpflichtung
heraus
auf Werte eingeschworen hatte, deren Fundamente
unantastbare Rechtsstaatlichkeit, Freiheits- und
Menschenrechte
sowie Menschenwürde sind? Mittlerweile
sind in manchen Demokratien politische Doppelmoral,
Populismus und Korruption drauf und dran, diese
geistigen Dimensionen zu unterminieren. Zweifelhafte
politische Eliten werden so urplötzlich mittels manipulierter
Medien- und Informationssteuerung zu anrüchigen
Wahloligarchen.
Doch Länder wie China, Russland oder die Türkei, die
den Irrgang westlicher Demokratien lustvoll miterleben,
müssen erst die angehäuften Untaten verachteter
Freiheits- und Menschenrechte vor der eigenen Türe
kehren. Auch der Level an Korruption ist in diesen Ländern
immer noch deutlich höher als im Westen. Das ist
kein moralischer Fingerzeig, aber letztendlich ein Ausweis
der Überlegenheit des demokratischen Systems, für
58
das Leistung nach wie vor wichtiges Prinzip der freien
Gesellschaft ist. Damit dieser „Westen“ nicht länger als
Synonym für eine abgelaufene Epoche steht, bedarf es einiger
Kraftanstrengung, um aus der selbstverschuldeten
Identitätsnot herauszufinden.
59
Osteuropa tickt anders
Bei ihrem EU-Beitritt 2004 hatten sich die osteuropäischen
Staaten verpflichtet, den „Besitzstand der EU“, den
Acquis communautaire, zu übernehmen. Dass dieser Pluralismus
und Freiheit verbindlich vorschreibt, wird von
manchen ignoriert. So haben Polen und Ungarn auffällige
Probleme mit gelebter Demokratie. Warschau provoziert
mit seiner Rechtsstaatlichkeit, Budapest verabschiedete
Gesetze, die tiefe Einschränkungen zum Thema Sexualität
mit sich bringen. Beide scheinen geradezu darauf zu warten,
bis die westlichen EU-Mitglieder empört aufschreien,
um sich dann dem eigenen Volk als Widerstandskämpfer
gegen die EU zu beweisen. Sie gehen bis ans Äußerste,
dann rudern sie zurück. Das einzige Druckmittel der
Kommission in Brüssel ist bislang das Geld, das zurückbehalten
wird.
Es gibt auch eine zweite Seite: Die westlichen alten EUMitglieder
mitsamt der Brüsseler Kommission leiden,
so der französische Politologe Jacques Rupnik, an einem
„Eigentümerkomplex“. Ihre Vorstellung einer liberalen
Gesellschaft ist die einzig zulässige Form der Demokratie.
Die Westeuropäer sollen sich jedoch hüten, die Eigenheiten
und Entwicklungsstufen anderer Staaten zu missachten.
Sich als Missionare aufspielen, ist auch wenig hilfreich.
Jeder osteuropäische Staat braucht seine Zeit, um
sich in der Europäischen Gemeinschaft zurechtzufinden.
Kurz vor seinem Tod vor 27 Jahren hat der Philosoph
Karl Popper die Europäer auf die unterschiedlichen Prägungen
zwischen West- und Osteuropa hingewiesen. Die
60
ehemaligen Nationen des Ostblocks hätten nicht dieselben
demokratischen Traditionen wie die westlichen. Es
werde 50 Jahre dauern, bis der Freigeist und Liberalismus
der westlichen Demokratien in Osteuropa übernommen
und gelebt würden.
61
Der Brexit hat auch sein Gutes
Die Europäische Union tut sich bekanntlich schwer. Sie
hat zwar eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame
Fiskalpolitik, sie hat die Größe und geographischen
Ausmaße eines Imperiums, doch die geopolitische Relevanz,
um sich in der Welt als erster Player zu offenbaren,
fehlt ihr. Das größte Problem ist jedoch das Demokratieund
Entscheidungsdefizit. Und dennoch: einer Umfrage
des „Pew Research Center“ – ein nichtstaatliches Meinungsforschungsinstitut
mit Sitz in Washington – zufolge,
bekunden 72 Prozent der Europäer ihre „Zweckliebe“ zur
Europäischen Union. Die zwischen 40 und 50 Prozent in
Österreich sind nicht zuletzt populistischer Agitation zuzuschreiben.
In keinem Land hätte ein Referendum nach
Brexit-Vorbild eine Mehrheit.
Apropos Brexit. Er hat auch seine guten Seiten, wie der
alte Kontinent (vielleicht etwas schadenfroh) registrieren
kann: wie schlecht er nämlich funktioniert. „Take back
Control!“ lautete die vollmundige Losung der Brexiteers.
Wir werden die Herrschaft über die Geschicke unseres
Landes den Bürokraten in Brüssel entreißen und unserem
Parlament im Westminster zurückgeben, hieß es. Befreit
von jeglichem EU-Papier- und Regelkram wollten sie die
Produktionskräfte entfesseln, die Insel sollte schlichtweg
ein Paradies und Schlaraffenland werden.
Allerdings, so richtig traute sich Boris Johnson nicht ran.
Nach zähem Hin und Her wurde der Steher Johnson abgesägt
und durch die smarte Liz Truss ersetzt. Sie verkündete,
kaum im Amt, das radikalste Steuersenkungspro62
gramm seit Margret Thatcher. Nach 49 Tagen war Truss
Geschichte. Großbritanniens Gläubiger, die von Steuersenkungen
nichts hielten, schickten mit der Verteuerung
ihrer Kredite die Premierministerin ins Ausgedinge.
Jetzt hat der indischstämmige Millionär Rishi Sunak das
Sagen in Westminster. Im Gegensatz zu seiner Vorgängerin
lehnt er Steuersenkungen für Spitzenverdiener ab.
Den Einkommensteuersatz für die niederen Einkommen
will er um vier Pozentpunkte senken. Sunak hatte von Anfang
an, mit den Problemen des Brexit zu kämpfen. Das
Gesundheitssystem ist veraltet, überall im Land fehlt es
an Ärzten, Krankenschwestern und Pflegepersonal. Die
horrenden Preise in den Lebensmittelläden treiben viele
Familien in die Armut. Die Zahl der Obdachlosen wächst.
Rishi Sunak hat noch keine Rezepte gefunden, wie er seine
Landsleute in eine bessere Zukunft nach dem Brexit
führen kann.
Die Zahl derjenigen, die von den Europagegnern hinters
Licht geführt werden, sinkt jedenfalls. Um Schritt zu halten,
haben Europas populistische Rechte die Losung vom
Verlassen der Europäischen Union aufgegeben. Sie reden
nur noch von Reform.
63
Risse im Gefüge der Demokratie
Seit der Aufklärung hat sich die liberale Demokratie im
Westen durchgesetzt. Es gehe nicht allein um die Unterdrückung
durch die Herrscher, sagt James Madison, einer
der Väter der amerikanischen Verfassung, sondern um
den Schutz des einen Teiles des Volkes gegen das Unrecht,
das ihm ein anderer zufügt. Und Montesquieu hat unserem
Westen im 18. Jahrhundert die „Dreifaltigkeit“ der
Gewaltenteilung verschrieben: „Wenn die Gerichtsbarkeit
nicht von Legislative und Exekutive getrennt wird, gibt es
keine Freiheit. Macht muss Macht konterkarieren!“ Dieses
massive Bollwerk wird flankiert durch den Rechtsstaat
mit den unveräußerlichen Rechten des Einzelnen, wie die
Freiheit von Gedanken und Rede.
Neuerdings ist das feine Gefüge dieser Demokratie allerdings
durcheinandergeraten. Zu verorten ist eine Bedrohung
von rechts und von links und im Populismus. Alle
miteinander propagieren einen Nationalismus vom jeweiligen
Gesichtspunkt aus. Die einen sind eher Putin-Versteher,
die anderen wiederum offene Gegner Amerikas
und der Nato. Innenpolitisch verwischen sich oft die
Grenzen. Die eine Partei will raus aus der EU, die Linken
etwa in Deutschland raus aus der Nato. Die rechten Parteien
in ganz Europa von Spanien bis Schweden schießen
gegen die Einwanderung, weil ihre Klientel offensichtlich
Job- und Fürsorgeverlust befürchtet.
Der griechische Gelehrte Polybios mahnte schon vor
mehr als 2000 Jahren, dass Demokratien sich wie alle
Herrschaftsformen in einem zwingenden Verfallsprozess
64
befänden. Das heißt für uns heute, wenn sie einmal das
Gemeinwohl nicht mehr im Blick hätten, würden sie irgendwann
durch eine autokratische Regierungsform abgelöst.
Wie richtig der Grieche mit seiner Prognose liegt,
zeigt sich am Verfallsprozess von illiberalen Demokratien
in Europa.
Noch schätzt die Mehrheit der Gesellschaft die Vorzüge
einer liberalen Demokratie. Das Leben in Freiheit, die
Meinungsfreiheit, gleiches Recht für alle vor dem Gesetz
und freie und geheime Wahlen sind den Menschen wichtig.
Dass manche Politiker abgekapselt in einer eigenen
Welt leben und vom hohen Ross aus auf die Bevölkerung
schauen, beschrieb schon Polybios als selbstzerstörerisch.
Der besorgniserregende Trend, dass den gewählten Demokratien
immer weniger Vertrauen entgegengebracht
wird, zeigt sich nicht nur in Europa, sondern rund um
den Erdball. Diese Probleme sind längst keine hausgemachten
europäischen, wie das Beispiel USA zeigt, wo
die Demokratie schon seit langem bröckelt. Das demokratisch
- republikanische Spektrum ist dort durch ein
demokratisch - autokratisches Spektrum ergänzt. Schon
mit Robert F. Kennedy und erst recht seit Donald Trump
stellten populistische Präsidentschaftskandidaten beider
Parteien die Staatsordnung des Landes infrage. Rechts wie
links erhielten immer mehr extremistische Züge und Ansichten
die Oberhand. Die politisch moderate Mitte wird
immer mehr zerrieben.
Ein Beispiel aus Lateinamerika. Der autokratisch regierende
Nayib Bukele aus El Salvador, das immer noch als
Demokratie fungiert, ist, wie jüngst eine Umfrage des
65
„Latinobarometer“ ergab, in 15 von 17 Staaten mit Abstand
der beliebteste Regierungschef dieser Regionen.
Dass der gute Mann zentrale Säulen des Rechtsstaates,
wie die Meinungsfreiheit aushöhlt und die Bevölkerung
stumm geschaltet hat, tut seiner Beliebtheit keinen Abbruch.
Er beendete die Bandengewalt und reduzierte die
Mordrate und traf dabei allerdings auch viele unschuldige
Menschen. Einkalkulierte Kollateralschäden, die man im
Guerillakrieg mit den Drogenbanden einfach hinzunehmen
hat. So wird die arme Bevölkerung gezwungen, über
seine rigorosen Methoden hinweggesehen.
Fazit: Wenn sich demokratisch gewählte Politiker längere
Zeit nicht um die zentralen Probleme der Bevölkerung
bemühen und diese ungelöst lassen, nimmt das demokratische
System Schaden. Auf lange Sicht kann keine noch
so scheinbar stabile Demokratie ohne kompetente Regierung
auskommen. Sie muss früher oder später scheitern.
66
Migration und Integration
Die europäische Migrations- und Asylpolitik rumpelt
trotz zahlreicher Sondertreffen vor sich hin. Das Dilemma:
Jeder macht was er will und jede Regierung vertritt
ihre eigene Wahrheit. Österreich reicht es jetzt. Sie nimmt
die EU in die Pflicht und fordert eine rigorose „Zurückweisungsrichtlinie“,
die helfen soll, Migranten aus sicheren
Herkunftsstaaten schnellstmöglich wieder abschieben
zu können.
Ob eine Abschottungspolitik unserem Land guttut, sei dahingestellt.
Keine Frage: Wir brauchen als rasant alterndes
Land mehr Einwanderung. Es bedarf einer dringenden
Neuorientierung, um qualifizierte Arbeitsmigranten als
Zielort zu binden. Wer jung ist, Sprachkenntnisse, Qualifikationen
oder Berufserfahrung nachweisen kann, soll
nach Österreich kommen und Arbeit suchen dürfen. Aber
auch Flüchtlingen, die bereits im Lande sind, muss der
Arbeitsmarkt geöffnet werden. Sie harren in ihren Unterkünften
aus und wollen arbeiten.
Die Kanadier machen es vor. Sie kalkulieren kühl, wer
dem Land einen dauerhaften Nutzen verspricht, das gilt
für Arbeitsmigranten und für Flüchtlinge. Diese erfahren
vom ersten Tag an für sich und ihre Angehörigen ein umfassendes
Integrationsprogramm. Allen anderen zeigt das
Land die kalte Schulter. Jeder illegale Grenzübertritt hat
die Abschiebung zur Folge. Im Gegensatz zu uns, sorgen
die Kanadier so für einen stetigen Zustrom an qualifizierten
Ausländern und benötigen auch keine Notunterkünfte.
67
Während dort und anderswo Migrantenkinder überdurchschnittlich
gute Bildungsabschlüsse erreichen, gilt
hierzulande das Gegenteil. Seit Jahren wird ergebnislos
an Deutschförderklassen herumgebastelt. Ohne Visionen
und nur populistisch ausgerichtet, blockiert sich Österreich
selbst seine Zukunft.
68
Die Migration gehört zu uns
Das Thema Flucht und Migration beherrscht nach der
Machtübernahme der Taliban in Afghanistan wieder die
Schlagzeilen. Über eine moralische Verpflichtung Europas,
seine Grenzen für Flüchtlinge zu öffnen, wurde, wie heute,
schon im Krisenjahr 2015 kontrovers diskutiert. Und der
Streit in der EU, wer wie viel Verantwortung für Schutzsuchende
übernimmt, wird auch nicht so schnell abreißen.
Meine Wurzeln habe ich hier, meine Eltern sind hier geboren,
dieser Ort gehört mir, diese Erde gehört mir – und
ich gehöre dieser Erde, da hat kein Fremder Platz! Dieser
Mythos bildet bis heute die Grundlage, auf der Bürgerschaft
in den europäischen Nationalstaaten definiert
werde, schreibt die italienische Philosophin Donatella Di
Cesare in ihrem Buch „Philosophie der Migration.“ Liegt
in dieser tief verankerten Haltung die Ursache dafür, dass
Europa sich geradezu martialisch gegen Einwanderung
abschottet? Was heute passiert, ist jedenfalls nichts anderes,
als ein Gefecht Europas und seiner Nationalstaaten
gegen die Migranten.
Dass das Fremde, der Flüchtling schon immer als Bedrohung
wahrgenommen wurde, geht wohl auf die antike
griechische Philosophie zurück, die zwischen Bürgern
und Fremden streng unterschieden hat, und auch Platon
gesteht Bürgerrechte ausschließlich Menschen zu, die auf
dem Gebiet des Staates geboren wurden und dort auch
immer blieben.
Für die bei uns ansässigen Fremden, Flüchtlingen, bedeutet
Wohnen nicht nur, sich hier niederzulassen und
69
einzurichten, sie müssen auch damit fertig werden, ihre
„Erde“ aufgegeben zu haben. Wir alle haben mehr oder
weniger Groß- oder Urgroßeltern, die Migranten gewesen
sind. Migration gehört also auch zu unserer persönlichen
Geschichte, das sollen wir nicht vergessen.
70
Abschottung keine Lösung
Im Jahr 1989 wurde eine Mauer niedergerissen und ein
Zeitalter der Weltoffenheit und Internationalität schien
anzubrechen. Gut drei Jahrzehnte später stecken wir in
einer Festungsmentalität. Der Hauptgrund für die geistigen
und realen Mauern, die sich überall auf dem Kontinent
auftürmen, ist das Aufhalten der Migrationswelle.
Terrorismus in ganz Europa hat dazu geführt, dass die
Menschen fürchten, Terroristen würden getarnt als
Flüchtlinge und Asylsuchende ins Land kommen. Treibende
Kraft dabei ist die geschürte Furcht vor dem Islam
und eine Islamophobie, die von Muslimen als Menschen
nichts wissen will. Diese Ideologie läuft den Idealen der
EU zuwider. Sie steht für die wachsenden Differenzen, die
die Europäische Union zu sprengen drohen.
Schon jetzt lässt unsere Willkommenskultur zu wünschen
übrig und Ökonomen befürchten gravierende Folgen für
den Wirtschaftsstandort Österreich. Dabei sind wir als
alterndes Land auf Zuwanderung angewiesen. Es fehlen
Zehntausende Arbeitskräfte. Unsere komplizierte Sprache
und die Bürokratie machen es ohnehin schwer, Fachkräfte
zum Kommen und zum Bleiben zu bewegen.
Österreich muss mit der neuen Realität der Migration und
der moralischen Verpflichtung, Flüchtlinge aufzunehmen,
klarkommen und darf dabei seine zentralen Werte nicht
aus den Augen verlieren. Wenn Ultrarechte in AfD und
FPÖ jetzt eine „Festung Europa“ fordern, den „globalisierten
Zugriff aus Brüssel“ kritisieren, russlandfreundliche
Positionen vertreten und gleichzeitig die „kriegslüs71
terne Sanktionspolitik“ der Europäischen Union geiseln,
liefern sie keine gesunde Zukunftsperspektive, sondern
puren Populismus. Mit restriktivem Nationalismus werden
wir unseren Wohlstand in Zukunft wohl kaum halten
können.
72
Wir leben in der Defensive
Mit dem Sturz des Kommunismus 1989 glaubte man, die
Geschichte steuert jetzt endlich auf freie Gesellschaften
in freien Ländern hin. Keiner sah den heutigen Zustand
voraus: autoritärer chinesischer Kapitalismus in Gestalt
Xi Jinpings, eine faschistische Diktatur in Russland unter
Putin, eine islamistisch-nationalistische Türkei Erdogans
oder „illiberale Demokratien“ innerhalb der EU. Das sind
die fragwürdigen Alternativen zu unserer liberalen Gesellschaft.
Die freie Gesellschaft ist heute überall in der Defensive.
Der weltweite Terror hat zu einer vorauseilenden Selbstzensur
der Medien in der freien Welt geführt. Lange vor
dem Sieg der Taliban in Afghanistan sorgten ihre Brüder
im Geist, die radikalen Islamisten, für die größte Gefahr
im liberalen Westen. Gemeinsam mit dem autoritären Kapitalismus
haben sie bei uns längst in Gestalt rechtsextremer
Parteien und islamistischer Netzwerke ihre fünften
Kolonnen und nützlichen Idioten gefunden.
An Grundprinzipien des Liberalismus, wie die Freiheit
des Individuums oder eine tolerante Gesellschaft, glauben
heute immer weniger Menschen. Wir geben vor, die
Meinungsfreiheit zu verteidigen, wenn es aber darauf ankommt,
versagen wir. Antisemitische, rassistische oder
frauen- und schwulenfeindliche Äußerungen sind jedoch
„keine Meinungen“, sondern sind pure Aggressivität und
Intoleranz.
Karl Popper sah die Gefahr und meinte, solange wir den
Intoleranten „durch rationale Argumente beikommen
73
und wir sie durch die öffentliche Meinung in Schranken
halten können, wäre ihre Unterdrückung höchst unvernünftig.“
An der Toleranz ist noch keine Demokratie zugrunde
gegangen, allenfalls am Mangel an Zivilcourage
gegenüber jenen, die Intoleranz im Namen der Toleranz
predigen.
74
Angst vor der Zukunft
Wie soll denn das Leben in einer „klimaneutralen“ Welt,
von der so viel gesprochen wird, eigentlich aussehen?
Was wird die Zukunft bringen? Nichts Gutes, wenn wir
dem globalen Diskurs der Politik Glauben schenken.
Eines ist jedenfalls gewiss: Handeln wir nicht sofort,
dann bricht in weniger als einer Generation das Verhängnis
über die Menschheit herein: immer wiederkehrende
enorme Hitzewellen, starke Gletscherschmelze der
Polarkappen, steigender Meeresspiegel, der vor allem die
Küstenstreifen bedroht. Autos, Dünger, Gasheizungen,
Kohlekraftwerke … heizen mit CO² und Stickstoff den
apokalyptischen Prozess weiter an, bis die Welt schlussendlich
zur Hölle wird unbewohnbar.
Wenn sich jemand mit dieser Weltsicht beim Psychologen
einfindet, bekommt er vermutlich Stimmungsaufheller
und Therapiegespräche verordnet, um aus seinem
schwarzen Loch in das er hineinmanövriert wurde,
herauszukommen. Das Kollektiv der Menschheit macht
jedoch mit diesen Schreckensvisionen weiter munter
Politik. Ein Verzicht auf die moralischen Pflichten zur
Rettung künftiger Generationen kommt keinesfalls in
Frage. Was uns in einer „klimaneutralen“ Welt erwartet,
bleibt in den politischen Verheißungen auffallend blass.
Das hat seine Gründe, denn wie sollte die Zukunft von
Milliarden Menschen aussehen, wenn nicht defensiv und
verängstigt?
Wann wäre das Klima je gerettet? Wie passt das zusammen,
dass der Mensch an sich gut ist, aber seinen Lebens75
raum kontinuierlich kaputt macht? Was sagt das über das
Gottesbild von Theologen und Ökophilosophen aus, vor
deren Augen die Menschen die Schöpfung schicksalhaft
zerstören? Antworten darauf werden jenseits politischer
Pragmatik am besten an die Nachwelt delegiert, denn die
Politiker sind heute nicht imstande oder nicht willens,
zukunftsweisende Antworten zu liefern. Ob die ökologische
Wende, die allseits propagiert wird, unsere angeschlagene
Zeit aus ihrer Krise retten wird? Wird auch die
Zukunftslosigkeit der „Letzten Generation“ – wie jede
Utopie – bald zur behaglichen Vergangenheit gehören?
Das letzte Wort wird immer die Natur behalten, denn
diese lässt sich nicht so leicht dreinreden.
76
Universum „Brüssel“
Brüssel ist eine Welt für sich. Auch wenn sich die jüngste
Schmiergeldaffäre nicht als die Spitze des Eisbergs, sondern
nur als Einzelfall erweisen sollte, wäre sie doch bezeichnend
für das, was im Europäischen Parlament und
in der EU alles möglich ist. Vermutlich verhält sich die
Mehrheit der Abgeordneten korrekt. Doch Brüssel scheint
auch dazu zu verleiten, die Grenze zur Vorteilnahme verschwinden
zu lassen. Die EU ist eine polyglotte und kosmopolitische
Veranstaltung mit hohem Gefahrenpotential.
In der EU neigt man dazu, sich für sakrosankt zu halten.
Ein Beispiel dafür lieferte Roberta Metsola, immerhin
Präsidentin
des EU-Parlaments. Nach Bekanntwerden
der Korruptionsaffäre sprach sie starke Worte: „Das Europäische
Parlament wird angegriffen. Die Demokratie
wird angegriffen!“ Ein bemerkenswertes Ablenkungsund
Umkehrmanöver. Die Aggressoren saßen vielmehr
im Parlament, im Hauptquartier. Der Feind lauert immer
draußen, drinnen ist die Welt heil.
So heil wie die Welt der NGOs. Diese Lobbyorganisationen
prunken gern mit hehren Zielen. Mehr Demokratie,
effektive Klimapolitik u.a. Ihre Karten spielen sie konsequent
aus. Längst sind sie zu einem veritablen Gewerbe
geworden, das in der Beschaffung staatlicher Mittel sehr
findig ist. Der NGO-Geist passt mitunter bestens zum
hochmütigen Geist der EU.
Der Italiener Panzeri war offensichtlich der Meinung, die
Schmiergelder stünden ihm zu. Dass ausgerechnet er eine
77
NGO leitet, die gegen die Straflosigkeit von Verbrechen
kämpft, ist wohl bittere Ironie. Nicht Abgeordnete und
Institutionen waren es, die diese internationale Gaunerei
aufgedeckt haben. Das Verdienst kommt einer Staatsanwaltschaft
und vor allem den viel geschmähten Geheimdiensten
zu.
78
Gespenst des Nationalismus
Das herumgeisternde Gespenst des Nationalismus macht
mir Angst. Immer dann, wenn von der Schwächung der
Demokratien und von Freiheit in Europa die Rede ist,
gewinnen die ultranationalistischen Parteien Europas, wie
der Front National in Frankreich, die AfD in Deutschland
oder die Fidesz-Partei in Ungarn die Oberhand. Aufgrund
der Migrationswelle in den letzten Jahren wurde die Unterstützung
für diese virulent nationalistischen Parteien
immer größer. Gemein ist allen, die Furcht vor allem was
fremd ist, zu schüren. Diese Linie wird oft bis zur unverblümten
Islamophobie überschritten und den Muslimen
grundsätzlich die Menschenrechte abgesprochen.
In den nationalistischen Wirren der ersten Hälfte des
vorigen Jahrhunderts hatte schon Karl Kraus davor gewarnt,
unsympathisch am Chauvinismus sei nicht so sehr
die Abneigung gegen die fremden Nationen, als die Liebe
zur eigenen. Dazu will ich meinen, sein Vaterland, seine
Heimat zu lieben, ist gesunder Patriotismus, aber andere
Nationen zu verachten, ist eben purer Nationalismus.
Den Zusammenbruch des Kommunismus hatte ich voll
Spannung miterlebt und ich las gerade bei Francis Fukuyama,
dass jetzt das Ende der Geschichte gekommen sei
und der Anbruch eines prosaischeren, weniger heroischen
Zeitalters eingeläutet würde. Doch andere sahen bereits
die Dämonen der Geschichte voraus und warnten vor aufkeimendem
Nationalismus, vor ethnischen und religiösen
Spannungen in Europa. „In Wahrheit hatte die Geschichte
Europa weder verlassen, noch war sie hierhin zurückge79
kehrt. Mit dem Ende des Kalten Krieges veränderte sich
lediglich Europas Ort in der Geschichte,“ diagnostizierte
Mark Mazower.
In Zentraleuropa waren die nationalistischen und liberalen
Kräfte so lange Verbündete, als sie das gemeinsame
Ziel verbunden hat, den Realsozialismus zu beseitigen.
Dann jedoch trennten sich die Wege. Nach dem Jahr 2000
hofften viele Liberale, den wiedererstarkten Nationalismus
auf dieselbe Weise eindämmen zu können, wie sie
den Realsozialismus besiegt hatten.
Was mit dieser nationalistisch postulierten Freiheit gemeint
ist, bleibt eher willkürlich diffus und wird von
Populisten argumentiert, wie und wo es gerade in ihr
politisches Machtspiel passt. Viktor Orban führt dabei
gekonnt Regie und liefert der Europäischen Gemeinschaft,
deren Mitglied Ungarn immerhin noch ist, unverblümt
die Kampfansage. Durch seinen Umgang mit
bürgerlichen Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit sowie
seiner Migrationspolitik stellt er sich de facto außerhalb
der europäischen Familie.
Das Beispiel Ungarn zeigt, in einer Demokratie kann man
den Nationalismus nicht so einfach beseitigen. Ich denke
jedoch, dass man imstande sein muss, nationalistische
Tendenzen in der Gesellschaft abzufangen. Denn nur
dann kann man dem wachsenden Einfluss der Nationalisten
entgegentreten. Dabei können Wahrheit und Würde
nicht hilflos gegenüber Manipulationen der Menschen,
Hass gegen alles Fremde und geschürte Fake News in den
missbrauchten sozialen Medien stehen.
80
Der Gordische Knoten EU
Mit den Verträgen von Rom im Jahr 1957 sollte das Projekt
einer kompakten europäischen Einheit ins Leben gerufen
werden. Sechs Jahrzehnte später ist aus der Europäischen
Union ein verhärteter Knäuel unterschiedlichster Standpunkte
und Sichtweisen geworden und der verbindende
Faden verloren gegangen. Einige der 27 Mitgliedsstaaten
wurden unzufrieden und erwähnen das Ziel einer logischen
Kontinuität gar nicht mehr.
Eigentlich muss man von zwei Klubs sprechen: der Nato
und der EU. Der erste bringt den einzelnen Beitrittsländern
mehr Vorteile als Pflichten, beim Zweiten sorgen immer
mehr institutionelle Kontrollen durch die Beamten
in Brüssel und allmähliches Aufgeben der Souveränität
zunehmend für Zündstoff. Viele sehen in dieser Europäischen
Gemeinschaft nur noch einen halbherzigen Gegenentwurf
zu den nationalstaatlich geführten Mitgliedsländern.
Die beinahe europafeindlichen Diskurse, wie sie aktuell in
Polen durch die seit Jahren regierende PIS und in Ungarn
durch Viktor Orbans Fidesz-Partei geführt werden, haben
genau da ihre Grundlage. Wenn Brüssel ständig daran
erinnert, dass man zuerst seine Pflichten erfüllen muss,
um dann auch von seinen Rechten profitieren zu können,
multipliziert sich der Effekt der Schikane. Die Entscheidung
des polnischen Verfassungsgerichts, sich nicht der
Rechtsprechung aus Luxemburg unterzuordnen, wirkt daher
wie ein politisches Erdbeben, dessen Auswirkungen
bis nach Frankreich und andere Mitgliedsstaaten der EU
81
zu spüren sind, wo der Nationalismus stetig zunimmt und
das Misstrauen gegenüber der Machtkontrolle in Brüssel
wächst.
Der Europäischen Gemeinschaft ist leider der innere
Kompass
verloren gegangen und eine gemeinsame visionäre
Strategie nicht in Sicht. Ist es da noch möglich, den
Faden der Geschichte wieder aufzugreifen und auf die
vor sechs Jahrzehnten in Rom gezogene Linie zurückzukehren?
Alexander der Große hat jedenfalls sein Problem
gelöst und den Seilknoten, den König Gordios an seinem
Streitwagen befestigt hatte, kurzerhand mit dem Schwert
durchschlagen. Vielleicht gibt es intelligentere Lösungen,
um den Knoten, der die EU durchwirkt, zu lösen?
82
Neue Sprache der Macht
Die EU erlebt gerade eine Rückbesinnung auf ihre Werte
und dieses europäische Modell erweist sich widerstandsfähiger
und solidarischer, als Diktatoren wie Putin glaubten.
Der Krieg in der Ukraine und die Coronapandemie
werden langfristige Folgen für eine neue geopolitische
Weltordnung haben: politisch-militärisch, wirtschaftlich
und ideologisch.
Was Despoten wie Putin am meisten fürchten, ist die
mentale und moralische Stärke ihrer Gegner. Deshalb
muss Europa die „Sprache der Macht“ schneller und eindeutiger
sprechen und die EU muss erst den Großmächten
USA und China ebenbürtig werden.
Für Investoren und Touristen ist Europa heute die attraktivste
Region der Welt. Leider auch für Diktatoren und
Oligarchen, deren Jachten im Mittelmeer ankern, deren
Vermögen auf europäischen Konten lagern und deren
Kinder in Schweizer Internaten ausgebildet werden. Europas
bisheriges Erfolgsmodell „Wohlfahrt und Wohlfühlen“
braucht dringend eine Ergänzung, denn unser Demokratie-
und Sozialmodell muss auch außen- und sicherheitspolitisch
verteidigt werden.
Europa muss digital, ökologisch und demokratisch aufrüsten.
Erste Schritte sind getan. Mit Cyberattacken werden
Infrastrukturen unserer Länder angegriffen. Die
Energie
wurde bereits zu Putins Waffe. Und er wird noch
länger die besseren Karten haben, solange unsere klimaneutrale
Wirtschaft hinterherhinkt. Angesichts dieser
Entwicklung
wird sich die EU erweitern müssen. Geor83
gien u. a. haben bereits Anträge gestellt, weitere werden
folgen. Eine ernstzunehmende Zukunftsunion braucht
funktionierende Regionen, Städte und Kommunen, und
so wird auch die Eigenvorsorge immer wichtiger. Wenn
wir weiterhin frei in Frieden leben wollen, müssen wir für
den Ernstfall gewappnet sein.
84
Politische Ängste
Greta Thunbergs Programm lautet „I want you to panic“.
Das Politikangebot der Grünen beruht zum Großteil auf
dieser Angst vor einer Klimakatastrophe. Die Kernkraft
ist hochgefährlich, war jahrzehntelang das Angstrezept
der Regierungen, auf den lieben Onkel Wladimir haben
wir derweil fast unsere gesamte Energieversorgung aufgebaut.
Die Putin-Angst wurde all die Jahre fahrlässig unterbewirtschaftet.
Dass Politiker auf Ängste der Bevölkerung
keine Rücksicht nehmen sollen, klingt nach einem sehr
schrägen Handlungsrezept.
Angst gehört zum Menschsein. Manchmal ist sie nützlich,
manchmal überflüssig – wir wissen es erst im Rückblick.
Auch wenn sie unbegründet scheint, man sollte über sie
reden. Während die Ängste vor Corona, vor dem Klimawandel,
vor der Kernkraft oder der Inflation Dauerthemen
in Talkshows sind, gilt die Angst vor Problemen der
Migration manchmal als unaussprechlich. Die Solidarität
mit der Ukraine ist zum Glück noch groß und die Angst
vor ukrainischen Flüchtlingen klein. Das hängt mit kultureller
Nähe zusammen und mit der Vermutung, dass viele
nach Ende des Krieges wieder zurückkehren werden. Dass
Einwanderung in einem überalterten Land nötig ist und
gut sein kann, sollten die meisten inzwischen begriffen
haben.
Die weitverbreitete Angst bezieht sich auf außereuropäische
Einwanderung, vor allem auf islamische und Ideologien,
die unsere Lebensweise ablehnen und verachten. In
seinem Roman „Unterwerfung“ schildert Michel Houel85
lebecq die Angst vor feindlicher Übernahme. Sie besitzt
einen realen Kern und viele muslimische Flüchtlinge, ob
aus Syrien, Afghanistan, dem Iran oder aus Afrika, haben
Ängste vor einem unheilvollen Islamismus, denn sie kennen
ihn besser als wir, sie haben darunter gelitten.
86
Das Aushebeln der Demokratie
Ob links oder rechts, an beiden politischen Rändern verstehen
sich die Radikalen als die wahren Vertreter des
Volkes. Sie wissen genau, was der Bürger braucht, was
ihn plagt und wie sein Leben wieder sorgenfrei sein wird.
Eine echte Demokratie eben: „Wir sind das Volk“. Davon
träumen jetzt auch die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“
und beschwören auf ihrer Webseite einen „Wendepunkt“
herauf, an dem sich die Gesellschaft erheben
werde, um ihre Vorstellung von Demokratie zu verwirklichen,
„die das Potential hat, uns aus der Todesspirale
herauszuführen.“
Das Ziel der „Letzten Generation“ ist mit der Klimaneutralität
bis 2030 vorgegeben und müsse für das Parlament
bindend sein. So wird die repräsentative Demokratie
praktisch ausgehebelt. Rhetorisch aber treffen sie den
Nerv der Zei, und gegen den Populismus von links und
rechts und den Aktivitäten der Klimaaktivisten sind erodierende
Institutionen machtlos.
Die Europäische Union ist zutiefst undemokratisch,
sie müsse sterben, damit das wahre Europa leben könne,
heißt das Mantra von Rechtsaußen. Noch sind wir
glücklicherweise ein stabiler Rechtsstaat und eine funktionierende
Demokratie. Gleichwohl sorgen Populisten
dafür, dass das Vertrauen vieler Bürger in die Kompetenz
der Politik sinkt. Alles was unter „Establishment“
firmiert, steht plötzlich unter Verdacht. Dazu gehört die
Hetze gegen Presse, Kirche, Bildung, Wirtschaft, Leugnung
von Fakten und Infragestellung der Wissenschaft.
87
Gefährliche Angriffe gegen Grundwerte der Demokratie.
Dem Vertrauensverlust kann nur begegnet werden, indem
man keine Ideologien und Wunschträume zum Maßstab
politischen Handelns macht. Politik muss realistisch und
ohne ideologische Scheuklappen betrieben werden.
88
Machiavelli entdecken
Er lebte in einer Republik, die noch kaputter war als so
manche in der heutigen Zeit. Niccolo Machiavelli (1469-
1527) gilt als Bösewicht, der die hemmungslose Anwendung
politischer Gewalt rechtfertigt. Doch nur wenigen
scheint aufzufallen, dass er die Machtausübung begrenzen
und die Macht der Reichen beschränken wollte. Als Beamter
der Republik Florenz sah er die Rechte der Bürger
bedroht
durch Vetternwirtschaft, Korruption, Kriege,
Ausbeutung
und Massenarmut. Es waren die „tumulti“,
unruhige Zeiten, die er vor Augen hatte.
Man sollte Machiavellis Schriften, die „Discorsi“, der „Der
Fürst“ oder die „Geschichte von Florenz“ stets vor dem
Hintergrund der großen Konflikte jener Zeit lesen. Beständig
überlegt er, wie man den Einfluss aller Bürger auf
das öffentliche Geschehen sichern kann. Den Populismus,
das Übel der modernen repräsentativen Demokratie, hat
schon Machiavelli als Demokratiedefizit begriffen. Es
herrsche zwar formal Demokratie, nicht aber das Volk.
Der britische Politologe John McCormick stellt sich mit
Machiavelli eine Rückeroberung der Demokratie von unten
vor und keine populistische Revolution. Das ist der
entscheidende Unterschied zwischen -Links- und Rechtspopulismus.
Die republikanischen Tugenden müssen
sich jedoch in der politischen Realität beweisen, statt mit
leeren Sonntagsreden abgespeist werden. Auch der verstorbene
französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty
lobte Machiavellis Schriften als „Beitrag zur politischen
Klarheit“ und konstatierte ihm ernsthaften Humanismus.
89
Der Politik von heute würde eine Renaissance des Denkens
des Autors der „Discorsi“ guttun, dem eine rationale
Begrenzung der Politik vorschwebte. Stattdessen findet
oft die Entgrenzung ihre Legitimation in einer absoluten
Moral.
90
Neutralität zum Ersten …,
…zum Zweiten, … zum Dritten. Das Thema Neutralität
steht wieder ganz oben auf der politischen Agenda. Die
Neutralität gedeiht nur im Schatten des Krieges und
sie bringt immer eine skeptische Grundhaltung zum
Ausdruck: sie verweigert sich dem Krieg, sie misstraut
aber auch dem Frieden. Es mag intellektuell reizvoll
sein, sie von Zeit zu Zeit in Frage zu stellen, politisch
klug war es nie
Wenn ein Kleinstaat wie Österreich der Welt gute Dienste
anbieten möchte, muss er sich zuerst mit einer strikten
Neutralitätspaxis Glaubwürdigkeit erwerben. In der Bevölkerung
ist die Neutralität laut Umfragen zwar tief verankert,
aber will sie auch die Konsequenzen mittragen?
Das Bundesheer war der „Ferrari“, der in der Garage blieb,
meinte völlig zu Recht der britische Völkerrechtler Ian
Brownlie. Vielfach spielt es nur als sehr nützliche Truppe
bei Katastropheneinsätzen eine Rolle.
Während der Ukrainekrieg Finnland und Schweden zu
einer geopolitischen Neuorientierung zwingt, wird unser
Land, das seine eigene Verteidigung nicht voll wahrnimmt,
aber neutral sein will, als politischer „Trittbrettfahrer“ eingestuft.
Österreich muss jetzt überlegen: warum nicht eine
ernsthafte Teilnahme an der „Gemeinsamen Sicherheitsund
Verteidigungspolitik“ der EU im Verbund mit der
NATO anstreben? Investitionen in Nachtsichtgeräte für
Eurofighter und Hubschrauber wären sogar eine Winwin-
Situation, dazu die Bereitwilligkeit an multilateralen
Friedensmissionen.
91
Letztendlich bleiben noch viele Fragen offen: Wie wird
sich die NATO weiterentwickeln, bröckelt der westliche
Schulterschluss? Wie sieht das Szenario nach den USWahlen
2024 aus und welchen Sicherheitsbegriff verfolgt
die EU? Abwarten, was passieren wird, ist kein guter Rat.
92
Ideologisch nie neutral
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat auch eine
kontroversielle Debatte um die österreichische Neutralität
in Gang gesetzt. Immer wieder wird versucht, diese neu zu
definieren. Außer Streit muss stehen, dass die Neutralität
mit Abstand der wichtigste Grundsatz unserer Außenpolitik
ist. Inzwischen ist sie gut in der Bevölkerung verankert,
wie alle Umfragen belegen.
Um Zurückhaltung bei Konflikten kommt kein neutraler
Staat herum, aber soll er bei schweren Verstößen gegen
das humanitäre Völkerrecht schweigen? Kein Zweifel, er
soll diese verurteilen, sagt der Schweizer Diplomat und
Publizist Paul Widmer. Was im Grundsatz von allen akzeptiert
wird, dazu darf sich auch ein neutraler Staat äußern.
Für Österreich muss daher die Maxime sein, unsere
Diplomatie soll wohldosiert und ideologisch fundiert
Stellung beziehen.
Es war so etwas wie die ideologische Feuertaufe für die
österreichische Neutralität. Als die Sowjetunion im Oktober
1956 den Ungarnaufstand brutal niedergeworfen
hatte, war es der Staatsvertragskanzler Julius Raab, der
selbstbewusst agierte. In einer Resolution an die Sowjetunion
gab seine österreichische Regierung eine eindeutige
politische Stellungnahme „zugunsten der demokratischen
Revolution in Budapest“ ab und forderte, dass durch die
„Wiederherstellung der Freiheit im Sinne der Menschenrechte
der Friede gestützt und gesichert werde.“ Raabs
Standhaftigkeit brachte Österreich auch außerhalb von
93
Europa viel Goodwill und selbst Lob vom Schweizer Bundespräsidenten.
Österreich hatte 1956 und 1968 beim sowjetischen Einmarsch
in die Tschechoslowakei glaubwürdig bewiesen,
dass die Unterscheidung zwischen militärischer Neutralität
und weltanschaulichem Neutralismus kein leeres Gerede
war.
94
Die Heimat hat Konjunktur
Ist damit alles klar, wenn der römische Philosoph Cicero
meint, Heimat sei dort, wo man sich wohlfühlt? Oder ist es
doch nicht so? Dieses Wohlgefühl will nicht als kurzfristiges
örtliches Dasein mit euphorischen Lebensmomenten
verstanden werden. Man muss es zeitlich uneingeschränkt
sehen und es hat ein dauerhaftes Sich-Niederlassen im
Auge. Es ist demnach eine komplexe Beziehung zwischen
Menschen und Lebensraum, die dem Wandel der Zeit unterworfen
ist.
Der Heimatbegriff hat wieder Konjunktur. Politische Akteure,
wie die deutsche Bundesinnenministerin Nancy
Faeser machen sich stark dafür. Sie will den Begriff „Heimat“
positiv umdeuten und so definieren, dass er offen
und vielfältig ist. Er soll ausdrücken, dass Menschen selbst
entscheiden können, wie sie leben, glauben und lieben
wollen. Damit impliziert sie jedoch, dass der Begriff der
Heimat zuvor negativ besetzt war. Eine Realität, die ausnahmslos
im linksradikalen Milieu vorherrscht. Diese
„Heimat“ soll demnach dem politisch extrem-rechten
Rand entrissen werden. Die Ministerin scheint zu meinen,
Heimat stehe immer noch für eine Art Blut-und-Boden-
Ideologie.
Wer heute in Österreich „Heimat“ sagt, kann schon aufgrund
der jüngsten Geschichte leicht in Verdacht geraten,
falschem Nationalstolz anzuhängen. Freilich lässt sich
hierzulande die Salonfähigkeit eines zeitgeistig getunten
Heimatbegriffs allein schon durch die Selbstpunzierung
einer Partei als „die soziale Heimatpartei“ festmachen.
95
Ob Heimat dem Diskurs der Rechten entspringt oder
ihre politische und gesellschaftliche Vereinnahmung geschichtlich
weit früher ihre Wurzeln hat, sei dahingestellt.
Die immer wiederkehrenden Diskussionen um die „Heimat“
zeugen da und dort von einem nach wie vor neurotischen
Verhältnis zu diesem Begriff. Dieser verkrampfte
Heimatdiskurs lebt vor allem von den Wortspenden geschichtsunmündiger
Politiker. Die Bürger und Bürgerinnen
sind dabei nur Statisten, deren Heimatgefühle wahlweise
gefördert, ausgetrieben oder umgedeutet werden.
Die richtige Deutung – wenn es überhaupt eine geben
kann – darf nie in den Händen der Politik liegen.
Historische Rückblenden sind vage und vom Nebel der
Geschichte umhüllt. In diesen aufflammenden Debatten
um den Heimatbegriff tut jedoch eine Erinnerung daran
gut, wie die Südtiroler 1939 leidenschaftlich um „ihre
Heimat“ gekämpft und gelitten haben. Es ging in den
zermürbenden Tagen der Option nicht um ein positives
Umdeuten dieses Begriffs, wie es Nancy Fraeser heute
vorschwebt. Es wurde um das Dasein gerungen. Die
bittere Alternative lautete: entweder du bleibst da in der
zunehmend „welschen Heimat“ und läufst Gefahr, südlich
des Po angesiedelt zu werden, oder du wirst deiner
Heimat untreu und wanderst ins Großdeutsche Reich aus.
Ob „Dableiber“ oder „Abwanderer“, die Heimat ging auf
jeden Fall verloren.
Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen,
heißt es. Die Gegenwart zeigt uns, wie vielfältig Heimat
heutzutage gelebt wird. So haben die vielen muslimischen
Zuwanderer in Europa mit einer positiven Deutung von
96
Heimat wenig Probleme. Man schaue sich nur die frenetische
Verwendung türkischer Flaggen auf Hochzeiten,
bei Demonstrationen für ihren Machthaber am Bosporus
an. Wenn es aber darum geht, den Heimatbegriff offen
und vielfältig zu machen, wie es Politikerwunsch ist, dann
ist das ein exklusiver Anschlag auf das, was uns mittlerweile
ohnehin eher als territoriale Verhandlungsmasse
zwischen verschiedenen Volksgruppen vorkommt, denn
als Heimat, die einem vertraut und lieb ist. Es geht nicht
um das, was Syrer, Türken oder Somalier unter Heimat
verstehen.
Das bisschen Heimatempfinden, das wir alle haben und
das wir leben wollen, ist es, worum es letztlich geht. So
ist auch die Renaissance des Heimatbegriffs, der vorzugsweise
in den Unterhaltungsmedien wahrzunehmen ist,
einzuordnen. Sie verzeichnen ein vermehrtes Bedürfnis
nach Authentizität, Gemeinschaftsgefühl in den Gemeinden
und Ursprünglichkeit. Dieser Trend wird dann auch
entsprechend durch folkloristische TV-Formate bedient.
Und plötzlich sind das Dirndl und die Lederhose wieder
cool. Noch vor wenigen Jahren hätte dieses Outfit bestenfalls
zur Selbstausgrenzung getaugt. In den 1950er Jahren
wurde einer kriegswunden Generation die heilsame Idylle
der heimischen Landschaft auf die Leinwand projiziert.
Schon ein Jahrzehnt später wurde dies als anrüchig empfunden.
Heimat ist ein Gefühl, das uns zu eigen ist oder nicht. Es
bemisst sich an Dingen, die eben nicht beliebig und für
jedermann zugänglich sind. Heimat ist immer auch etwas
Exklusives. Wer sich vor einer spezifischen deutschen,
97
österreichischen oder südtirolerischen Heimat mit ihrer
eigenen Kultur und klaren Werten scheut, der wird zu
einer nicht greifbaren Verhandlungsmasse, die keinerlei
integrative Wirkung auf Zuwanderer entfaltet.
98
Politik unter Dauerdruck
Wo liegt die Schuld, wenn heute ein regelrechter Widerwillen
gegen die Politik spürbar ist? Provokant könnte
man sagen, dass wir Wähler dabei Verantwortung tragen
und die Politikverdrossenheit sogar anheizen. Wir haben
schließlich die Politiker, die wir verdienen. Die Demokratiekrise
ist hierzulande besonders ausgeprägt.
Die Globalisierung, die Dominanz des Finanzmarktes
über die Wirtschaft und die komplizierte Struktur Europas
haben dafür gesorgt, dass Entscheidungen nicht mehr
an einem Ort, nicht mehr in heimischen Ministerien allein
gefällt werden. Sicher ein Grund, dass die Menschen
unsere Politiker als machtlos und inkompetent wahrnehmen.
Die Gesellschaft verlangt von ihren Volksvertretern ein
moralisch einwandfreies Leben, dass sie ihr Privatleben
öffentlich ausstellen, rund um die Uhr im Dienst sind und
auf jedes Ereignis sofort reagieren. Wir Wähler sollten
uns den wichtigen Dingen widmen: Parlamentsdebatten
verfolgen, sich für Parlamentsberichte interessieren und
Wahlprogramme wenigstens lesen.
Überhöhte Ansprüche können leicht nach hinten losgehen.
Berufspolitiker sind nicht alle Unschuldslämmer. Die
Korruption ist ein Dauerthema und wird in jedem Untersuchungsausschuss
stets von neuem befeuert. Aber: Die
überwiegende Mehrheit ist ehrlich, will die Gesellschaft
zum Besseren verändern, aber erntet selten Anerkennung.
Drei Dinge sind es, die den Politikerjob wohl zu einem der
99
undankbarsten machen: das Misstrauen der Wähler, die
Tyrannei der Transparenz und das Zeitdiktat.
Am meisten Sorgen dürfen wir uns um die Zukunft der
Parteien machen, die unabdingbar für die Demokratie
sind. Bislang hat aber noch niemand herausgefunden, wie
man sie dauerhaft wiederbeleben und die Grabenkämpfe
beenden kann.
100
Lieber Militär als Demokratie
Die meisten Menschen glauben nach wie vor an die Ideale
der Demokratie. Diesem System trauen sie am ehesten zu,
die individuellen Rechte der Bevölkerung wie Freiheit,
Religion, sexuelle Orientierung oder Grundversorgung zu
schützen. Das kürzlich veröffentlichte Open Society Barometer
mit Umfrageergebnissen aus 30 Ländern, darunter
Österreich, zeichnet noch ein überraschend positives Bild
der Demokratiefreundlichkeit.
Das sind die guten Nachrichten. Die Studie liefert alarmierende
Erkenntnisse, was die Jugend von der Demokratie
hält. Nur noch etwa 57 Prozent der 18- bis 35Jährigen
ziehen diese Regierungsform vor. Zwei von fünf jungen
Menschen wollen einen „starken Machthaber“ und würden
lieber eine Militärregierung vorziehen.
Diese Jugend ist in einer Krisenwelt aufgewachsen und
politisiert worden. Es sind die klimatischen, wirtschaftlichen
und geopolitischen Verwerfungen, die sich in den
letzten Jahren in einem noch nie dagewesenen Ausmaß
verstärkt haben und mit denen wir alle fertig werden müssen.
Die Sorgen über Terror, Korruption, Klimawandel,
Arbeitsplatz und die hohen Lebensmittelkosten liefern
wohl weiter Anhaltspunkte für diese Erschütterungen,
die den Ruf nach neuen Regierungsmodellen mit einer
„starken Führung“ auslöst.
Kein System und keine Regierungsform können sich
allein mithilfe abstrakter Ideale behaupten. Macht und
Legitimität der Demokratie stützen sich immer auf das
Vertrauen der Menschen, dass diese größeren materiel101
len Wohlstand bringen könne und somit ihr Leben verbessert.
Um der schleichenden Desillusionierung junger
Menschen entgegenzuwirken, ist eine glaubhafte Politik
gefordert, damit das Vertrauen in die Vorzüge einer demokratischen
Gesellschaft wiederhergestellt wird.
102
Die Worte im Griff halten
In der Psychotherapie kann man viele Probleme lösen,
wenn die Menschen darüber sprechen. Aber die Gefahr
eines Atomkrieges bannt man nicht, indem man sie immer
wieder heraufbeschwört. Je weniger aufgeregt über
die Atombombe geredet wird, desto wirkungsloser wird
dieses psychologische Horrorszenario sein. Seit der Kubakrise,
in der kein einziger Schuss fiel, wirkt die Atombombe
allein ihrer Existenz wegen über die Angst. Die
Furcht vor einer apokalyptischen Selbstauslöschung der
Menschheit war allgegenwärtig.
Seither sind 77 Jahre vergangen und „am 24. Februar 2022
wachten wir plötzlich in einer anderen Welt auf,“ formulierte
es Annalena Baerbock. Der Überfall der Atommacht
Russland auf die Ukraine mitten in Europa hat in uns alte
Ängste wachgerufen. Die Gefahr eines 3. Weltkrieges oder
eines Atomschlags ist wieder da. Während allerdings der
sowjetische Machthaber Nikita Chruschtschow in der Kubakrise
bei Entscheidungen in ein Politbüro eingebunden
war, hängt heute alles an einem einzigen Mann – Wladimir
Putin.
Putin, sein Außenminister Sergej Lawrow und die gigantische
russische Propagandamaschinerie nutzen die
Existenz ihrer Atombombe gekonnt, um durch psychologische
Horrorszenarien den ohnehin für schwach gehaltenen
Westen noch mehr zu schwächen. Die Zögerlichkeit
Deutschlands bei der Lieferung von Waffen an die Ukraine,
wobei Bundeskanzler Olaf Scholz immer wieder die
Gefahr eines drohenden Weltkriegs heraufbeschwor, be103
weist nur, dass russische Provokationen Wirkung zeigen.
Die Politiker der westlichen Demokratien müssen sich
bewusst sein, dass ihre Sprache Wirklichkeit schafft. Je
weniger aufgeregt über den Atomkrieg geredet wird, desto
wirkungsloser wird die Drohung mit der Bombe als psychologische
Waffe.
104
Klimapolitik in Zugzwang
Die internationale Energieagentur gibt der Klimapolitik
ein rasantes Tempo vor: Sie fordert den Totalumbau des
Energiesektors und schon ab dem Jahr 2025 ein Verbot
des Einbaues von neuen Öl- und Gasheizungen.
Das Ziel: Im Jahr 2050 stammen fast 90 % der Stromerzeugung
aus erneuerbaren Quellen, der Rest kommt
größtenteils aus der Kernenergie. Davon sind wir in Österreich
und in vielen anderen Ländern der Europäischen
Gemeinschaft noch meilenweit entfernt.
Der Lockdown hat das kulturelle und soziale Leben der
Gesellschaften zerrüttet und eine Wirtschaftskrise, deren
Ausmaß noch gar nicht abzuschätzen ist, ausgelöst. Die
Pandemie hat auch die politischen Institutionen gelähmt
und kaum etwas, was nicht mit Corona zu tun hatte, wurde
vorangebracht. Das alles wird sich eine Gesellschaft
im Krisenmodus auf Dauer nicht mehr leisten können.
Es sollte uns Sorge machen, denn auf die großen Herausforderungen
durch den Klimawandel sind wir nicht wirklich
vorbereitet.
Die Diskussion über die ökosoziale Steuerreform wird
halbherzig
und ideenlos geführt. Lieber hält man es mit
der jahrelang erfolgreich praktizierten Klientelpolitik, die
jedem scheibchenweise etwas bringt. Wenn sich die Regierung
jetzt nicht ernsthaft um die Ökologisierung des
Steuersystems bemüht, müssen wir schon demnächst
alle die Klimarechnung bezahlen. Überfällig sind breit
angelegte Investitionen in erneuerbare Energien und
ein eindeutiges, nicht halbherziges Bekenntnis zur Ver105
kehrswende. Das Ende der Zivilisation, wie wir sie zwar
sehr schätzen, aber mit der wir leider viel zu respektlos
umgehen, wird nicht so lange auf sich warten lassen, bis
der Meeresspiegel um ein paar Meter angestiegen ist und
unsere Gletscher dahinschmelzen. Es könnte schon mit
der nächsten Viruspandemie Schluss sein.
106
Über die politische
Freiheit im Alltag
Unsere bürgerlichen Gesellschaften brauchen eine Balance
von Liberalismus und Verboten, sonst wird die vielzitierte
„Freiheit“ schnell zum Kampfbegriff. Diktaturen
stellen in der Regel fast keine Alltagsgesetze auf. Der Alltag
der Bürger interessiert die Nomenklatura nicht. Aber
dort sich in aller Offenheit über den jeweiligen Präsidenten
aufzuregen, da setzt es Gefängnis und sogar Folter.
Die Menschen in Russland können ein Lied davon singen.
Umgekehrt verhält es sich in unseren liberalen Demokratien.
Um dem anderen möglichst wenig auf die Nerven
zu gehen, gibt es viele Gesetze. Etwa, dass Grünanlagen
nicht verdreckt werden, die Autos im Stadtgebiet nicht rasen
und die Geschwindigkeitsbeschränkungen einhalten,
damit die Menschen keine schädlichen Abgase einatmen
müssen und ruhig schlafen können, dass die Sperrstunden
eingehalten werden und so weiter. Aber öffentlich die
Regierung kritisieren, das ist schon lange keine Majestätsbeleidigung
mehr.
Radikaler als andere Demokratien geben sich die Amerikaner.
Sogenannte „hate speech laws“ gibt es nicht. So
ist es öffentlich erlaubt, Hakenkreuze auf Hauswände zu
kritzeln und Juden oder Schwarze zu beleidigen. Den
Sturz der Regierung fordern ist in den USA erlaubt, wer
aber zum Mord des Präsidenten aufruft, muss mit dem
Besuch des FBI rechnen. Gestattet ist es, ihn einen Nazi,
Kommunisten oder Dummkopf zu heißen oder – wie es
Joe Biden angetan wurde – das bösartige Gerücht zu ver107
streuen, er sei pädophil. Während der Coronapandemie
schleuderte der Ex-Gouverneur von Kalifornien Arnold
Schwarzenegger den Maskengegnern ungestraft „Scheiß
auf deine Freiheit“ entgegen.
„Eine bewaffnete Gesellschaft ist eine höfliche Gesellschaft“
sagen die amerikanischen Waffenfetischisten. Dahinter
verbirgt sich wohl die Vorstellung, dass, wenn man
im Alltag einem Menschen mit Revolver gegenübersteht,
auf der Stelle die besten Manieren Einzug halten. Weil
niemand über den Haufen geschossen werden will. Die
Amerikaner nennen dies Freiheit bzw. das Recht einer
Minderheit, auf niemand anderen Rücksicht nehmen zu
müssen. Die Freiheit der Waffennarren ist die Unfreiheit
der amerikanischen Kinder. Die Mehrheit der Amerikaner
denkt bekanntlich anders, sie hätten gern ein Waffenrecht,
damit sich Kinder in den Schulen nicht mehr gegen
den nächsten „gun man“ verschanzen müssen.
Schon die Geschichte der Menschheit zeigt uns, wie sehr
die Instrumentalisierung der Freiheit eine historische
Konstante
darstellt. Die Komplexität des Freiheitsbegriffs
wird immer ignoriert. Wenn es um Parteipolitik geht,
wird das Zurechtstutzen der Freiheit stets nur dem politischen
Gegner unterstellt. Der Staat darf sich nicht ins
stille Kämmerlein zurückziehen, sondern muss die Freiheit
auch über punktuelle Einschränkungen der Selbstentfaltung
fördern. Welchen Sinn hätte etwa die Presseförderung
in einer Gesellschaft von lauter Analphabeten.
Welchen Sinn hätte die freie Berufswahl, wenn nicht der
Staat die Grundlagen dazu geschaffen hat.
108
In großen Teilen der Gesellschaft wird schlicht geleugnet,
dass ein aufgeklärter Freiheitsbegriff auch mit Verantwortung
geknüpft ist. Andere wiederum opfern Aspekte der
negativen Freiheit als Ablehnung von Fremdbestimmung
und staatlicher Übergriffigkeit gern auf dem Altar der Sicherheit.
„Wo bleibt da der progressive Widerstand gegen
Maßnahmen, die in anderen Zusammenhängen bis aufs
Blut bekämpft worden wären, wo der Einspruch gegen
Grenzschließungen, allgegenwärtige Kontrollen und historisch
einmalige Grundrechtseinschränkungen“ fragt der
Politikwissenschaftler Michael Bröning.
Der Fokus rechtsgerichteter Parteien liegt eher auf einer
Freiheit vom übermächtigen Staat und Eigeninitiative.
Die ist plausibel und legitim. In westlichen Demokratien
hat man sich längst mit einem Freiheitsbegriff arrangiert,
der negative und positive Freiheitsrechte berücksichtigt.
Selbst hartgesottene Verfechter der Freiheit stellen sich
beispielsweise nicht ernsthaft gegen die Erhebung von
Einkommensteuern, die ja eigentlich das hehre Ideal des
Eigentums verletzen, nur um etwa unser Straßennetz zu
finanzieren.
Von linker Seite wird traditionell die Sorge vor einer Spaltung
der Gesellschaft angeführt. Den Gegnern der Corona-
Maßnahmen wurde mit Verachtung begegnet. Skepsis
ist eine freiheitlich demokratische Tugend. Natürlich ist
der Schutz der Gesellschaft und des Gesundheitssystems
vor Überlastung legitim. Doch auch, wie in Zeiten des
pandemischen Ausnahmezustandes geschehen, sollte
selbstverständlich sein, dass nicht die Menschen dem
109
System dienen, sondern das System den Menschen und
ihrer Freiheit.
Freiheit ohne Sicherheit ist das Gesetz des Dschungels. Sie
ist ein kostbares und fragiles Ideal, das schwer zu ersetzen
ist, wenn es einmal aufgegeben wurde. Nicht zuletzt die
Anti-Terror-Gesetze des 11. Septembers liefern hier ein
Menetekel.
Der große Vordenker des Liberalismus, John Stuart Mill,
schrieb: „Über ein Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft
darf Macht, wenn sie gegen seinen Willen geht, nur ausgeübt
werden, um Schaden von anderen abzuwenden.“
Meines Erachtens muss dann aber auch Macht ausgeübt
werden. Festzustellen ist: Freiheit bedeutet jedenfalls
nicht, dass in einer liberalen Demokratie, wie wir sie leben,
jeder alles darf. Oder es bedeutet, dass jeder alles
darf, was keinen anderen verletzt.
110
ewig
zeit geschenkt.
zeit für mich.
was mir gegeben?
wo mein Besitz?
grenzen spür ich.
eweigkeit
hoffnung der Zeit.
ernte
h.oeggl
Gesellschaft
113
Ohnmacht und Zuversicht
Unsere Großeltern und Eltern mussten die Zeit nach
dem Zweiten Weltkrieg im Chaos und in großer Unsicherheit
durchleben. Alles war im Umbruch: Gesellschaft
und Politik, Wirtschaft, Kultur und die Kirche. Die alten
Ordnungen waren zusammengebrochen, neue Strukturen,
die den Menschen nach den schweren Kriegsjahren
Halt und Sicherheit geben sollten, wurden sehnsüchtig
erwartet, waren aber noch lange nicht in Sicht.
Dieser Zwischenzustand setzte sich fort, bis der Staatsvertrag
den Österreichern neues Selbstverständnis schenkte
und wir am Radio aufgeregt Leopold Figls leidenschaftliches
„Österreich ist frei“ mitverfolgten. Die Kirche kam
dann nach dem konziliaren Zwischenhoch neu und tiefer
in die Krise. Europa und die Welt waren noch immer im
Kalten Krieg festgefahren, bis der Kommunismus scheinbar
implodierte. Während sich im Nahen Osten bedrohliche
islamische Revolutionen ereigneten, verschärfte sich
gleichzeitig die weltweite soziale Ungleichheit und die
ökologischen Probleme traten immer massiver zu Tage.
Und wieder fühlte man sich unsicher im Wartestand und
wurde ungeduldiger.
Der Weltfriede, den man sich nach dem vermeintlichen
globalen Sieg der demokratischen und kapitalistischen
Systeme erwartet hatte, ließ auf sich warten. Nine-Eleven
war das nächste Schlüsselereignis und brachte eine längst
überwunden geglaubte finstere religiöse Gewalt zum Ausbruch.
Mit China drängte sich immer heftiger eine neue
bislang unbeachtete Weltmacht auf, während in Europa
114 114
der Zusammenhalt schwächelte. Die Flüchtlingsströme
führten zu menschlichen und politischen Verwerfungen.
Nach der Migrationswelle im Jahr 2015 lag bleierne
Schwere über ganz Europa. Wieder aufflammender Nationalismus
und Rechtspopulismus, Terror, Rassismus
und Antisemitismus, in vielem angstbesetzt und hassgesteuert,
entstanden aus dem Nichts. Regime wurden zusehends
autokratischer und totalitärer, die Demokratie
wirkte bedroht. Die Kirche wurde durch die Aufdeckung
ihrer Skandale in ihrem Selbstbild und Wirken erschüttert.
Und heute? Das über Jahrzehnte hin Unvorstellbare ist
eingetreten. Es herrscht wieder Krieg in Europa. Es ist
kein Bürgerkrieg wie beim Zusammenbruch Jugoslawiens.
Ein hinterhältiger Angriffskrieg der russischen Weltmacht
gegen die souveräne Ukraine. Damit geht am alten
Kontinent die längste Friedensperiode der Geschichte
zu Ende. Sterbende Menschen, zerstörte Infrastruktur,
Cyberwar, Sanktionen: Ein hybrider Krieg, beim dem
die Schlachtfelder unüberschaubar sind und die größte
Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg zu beklagen
ist. Dieser Krieg wird militärische Auswirkungen auf Europa
und die Welt haben. Der Kalte Krieg war nie wirklich
vorüber müssen wir erkennen. In Amerika, dessen politische
Kultur nach Trump verrottet ist, will die neue Führung
wieder die transatlantischen Beziehungen pflegen
und zurück zu alter Weltmachtstärke. Afrika wird zum
Armenhaus und China erscheint immer bedrohlicher.
Wenn die Menschheit die schreckliche Plage Corona --
gleichwohl die größte soziale Herausforderung unserer
115
Gesellschaft mit zwei Jahren erzwungener Häuslichkeit
und Kontaktreduzierung -- überwunden hat, wird sie sich
weiterhin vielen drängenden Problemen, insbesondere
dem Klimawandel und der Migration widmen müssen.
Entweder es gelingt in den nächsten Jahren eine grundlegende
Transformation unserer Art und Weise, den Planeten
Erde zu bewohnen, oder wir steuern auf eine humanitäre,
biologische und ökologische Katastrophe globalen
Ausmaßes zu. Noch aber gibt es nach wie vor Hoffnung.
All diese Mühsal hat das technokratische Selbstbild der
Menschheit erschüttert und in ihrer Unbezähmbarkeit
immer mehr Zeitgenossen verängstigt. In der Konkurrenz
mit anderen Weltanschauungen schwächelt das Christentum
und die Kirchen schaffen es nicht, ihre innere Zerrüttung
aufzuarbeiten und ihre Botschaft zu vermitteln.
Einige Christen träumen von einer Kirche, irgendwie heil
eingebettet in festen Ritualen. Sie idealisieren ein Christentum
des 19. Jahrhunderts, rückgreifend auf ein verklärtes
Mittelalter, das es so nie gab. Andere klagen hartnäckig
überfällige Reformen ein und nicht wenige versanden in
abstrusen Verschwörungsideologien. Bei allen Gruppen
gehört Unzufriedenheit zum vorherrschenden Lebensgefühl.
Die Türen stehen offen für Fake News, Lüge und
Manipulation. Die Sehnsucht nach Sicherheit, Ordnung
und zeitloser Wahrheit wird immer radikaler als Traum
entlarvt.
Schon vor 2000 Jahren verkündete Jesus die Apokalypse
als gegenwärtig und seither hat sich das nicht geändert.
Christen dürfen die Dinge dieser Welt dennoch genießen,
heißt es, weil sie in Nähe und zugleich in Distanz zur Welt
116
leben. Ihre Haltung ist Vertrauen, Geduld, Hoffnung. Der
Philosoph der evolutionären Welt, Pierre Teilhard de
Chardin SJ, sagt: „Über allem traue der langsamen Arbeit
Gottes. Denn das ist Gesetz aller Entwicklung, dass der
Weg über verschiedene Phasen der Instabilität geht und
sehr lange Zeit braucht.“ Das Dazwischen zu akzeptieren,
fordert uns Menschen heraus.
117
Über die Rettung der Debattenkultur
Gestritten werden soll über alles, es kommt auf die Kultur
der Debatte an. Der Streit gehört ja zum Wesen der
Demokratie. Eine politische Diskussion wird dann unmöglich,
wenn jeder behauptet, die Wahrheit für sich gepachtet
zu haben.
Landauf, landab ist die Tendenz zu beobachten, wie im
politischen Extremismus die Welt in zwei Hälften geteilt
wird: Gut und Böse, Richtig und Falsch und selbst
in Hübsch und Hässlich. Die eigene Position wird dabei
selbstredend mit einer sakrosankten Haltung verwechselt.
Überflüssig geworden ist jede Diskussion, wenn die eigene
Position nicht nur inhaltlich, sondern auch moralisch
überhöht wird. So ist aus dem Pluralismus ein Sektierertum
geworden, sagt der Soziologe Andreas Reckwitz.
Themen wie Ernährung, Gesundheit, Körperkult, Klima
– man findet nur noch vorgebene Standpunkte, die dem
Einzelnen das Gefühl geben, etwas Besonderes zu sein.
Der Wert des kultivierten Streits wird nicht mehr verstanden.
Die Klimaaktivistin Greta Thunberg bekundete
2019 mit US-Präsident Donald Trump nicht diskutieren
zu wollen. Eine Diskussion mit Trump bringe nichts, weil
man von vorneherein wisse, dass sie zu nichts führe. Dasselbe
hätte natürlich auch Trump sagen können. Der Wert
einer öffentlichen Diskussion besteht gerade darin, dass
sich die Menschen eine eigene Meinung bilden können
und nicht eine vorgefertigte unantastbare Meinung nachgebetet
werden muss.
118
In diesen Tendenzen sehe ich eine große Gefahr für die
Demokratie. Extremistisches, ja totalitäres Gedankengut
wird offenkundig. Daher ist es besonders wichtig, dass gesellschaftliche
Debattenkultur mit einer Rückbesinnung
auf altes Wissen wiederbelebt wird. Das Orakel von Delphi
hat Sokrates einst zum gescheitesten Mann Griechenlands
erklärt. Niemand war davon überraschter als er selbst,
der bekanntlich ja wusste, dass er nichts wusste. Auf der
Rundreise durch die Lande fand er viele Menschen mit
herausragenden Kenntnissen auf bestimmten Gebieten.
So glaubten sie auch, auf anderen Spezialgebieten schlaue
Sager von sich geben zu müssen. Sokrates lebte es ihnen
vor: Zurückhaltung ist das Gebot der Stunde, wenn man
dazu neigt, die eigene Meinung für das Nonplusultra zu
halten.
Besonders bei sozialen und politischen Problemen ist die
eigene Sichtweise abhängig von Erziehung, Sozialisation,
Schule, oder wirtschaftlichem Hintergrund und so weiter.
Das gleiche Problem kann sich für zwei Menschen
aus unterschiedlichen Milieus ganz anders darstellen. Ein
zentraler Satz der Erkenntnistheorie lautet: „Ich weiß es
nicht“. Von politischen Mandataren kann man nicht erwarten,
dass sie Universalgelehrte und technokratische
Spezialisten sind. Was für eine Befreiung und gelebte Debattenkultur
wären etwa die Antwort eines Parlamentariers:
„Ich bin der Meinung, Sie haben recht. Auf der Basis
Ihres Argumentes muss ich Ihnen zustimmen.“
Besonders in der Auseinandersetzung mit Populisten
und Extremisten bemühen sich alle, vom nicht beamteten
Universitätsdozenten bis zum Fernsehjournalisten
119
um Haltung, meist gegen rechts. Die Diskussionslosigkeit
gegenüber fragwürdigen oder problematischen Personen
oder Ideologien ist selbstentlarvend. Wer ein sattelfester
Demokrat ist, kann einen Populisten inhaltlich stellen.
Argumentativ und intellektuell nicht so integer, wie er
gerne von sich glaubt, ist einer, der zur Ausgrenzung greifen
muss. Vielleicht liegt die Rettung der Debattenkultur
darin, einzusehen, dass man einmal völlig daneben liegen
könne.
120
Gesellschaft bedarf Kirche
Die Kirche zu verlassen, gehört heute zum guten Ton.
Kaum jemand scheint dies zu stören, vielmehr gilt es geradezu
als ein Gebot der Vernunft. Wer nach den Missbrauchsskandalen
oder dem Gezerre um fragwürdige
Bischofsernennungen allen Ernstes noch der Kirche die
Treue hält, sei selber schuld. Die Dummen seien nicht die
gehen, sondern jene die bleiben, heißt es.
Es stellt sich die Frage, ob dieses allseits akzeptierte und
praktizierte Kirchenbashing doch zu den kollektiven Reflexen
gehört, die dieser Gesellschaft eines Tages noch
leidtun werden. Wenn sich die Kirche als seelische und
ethische Instanz einmal ganz verflüchtigt hat, wird das
Heer der Ausgetretenen irgendwann schon darüber nachdenken,
welche Folgen das haben wird. Schon jetzt, da die
Katholische Kirche im Jahr 2022 an die 90.000 Austritte
registrieren musste und nur noch 52 Prozent der Österreicher
sich als Katholiken bekennen, ist Österreich ein
Land, in dem große ethische Fragen an Bedeutung verlieren.
Wir sind eine Gesellschaft geworden, in der immer mehr
Menschen mit ihren seelischen Nöten nicht mehr fertig
werden. Wir stolpern von einer miesen Bildungsstudie
zur nächsten. Viele junge Familien werden auf der Suche
nach einer verlässlichen Kinderbetreuung im Regen stehen
gelassen: ein Land, das in vielfacher Weise moralisch,
kulturell und geistig verarmt.
Sind diese Defizite schuld daran, dass die Kirche so
schwach ist oder ist es andersrum? Es ist eher eine Wech121
selwirkung. Beides bedingt einander und schaukelt sich
gegenseitig hoch. Die Ausgetretenen kümmerts wenig. Es
wäre im Interesse des Landes, würden die noch verblieben
Kirchenmitglieder den richtigen Weg vorzeigen, nämlich
im Dienst am Mitmenschen und in einer gelebten Gemeinschaft.
122
Empathie nur hohler Begriff
Das Wort Empathie ist einer der meistgebrauchten Begriffe
unserer Zeit. Keine Charity-Gala und kein Elternabend
kommen ohne den Ruf nach Empathie aus. Wie aber können
Menschen immer noch dem Elend der Ukrainer regungslos
zu schauen? Sind wir eben dabei, uns an diesen
Krieg zu gewöhnen, so wie wir täglich lethargisch hinnehmen,
dass die Einkaufstaschen nur mehr halbvoll bleiben
und die Benzinpreise auf hohem Niveau verharren?
Immer lauter werden die Stimmen, die uns überzeugen
wollen, dass es in jedem Konflikt nicht nur Weiß und
Schwarz, sondern auch viele Grautöne dazwischen gibt
und man nicht „einseitig“ sein dürfe. Wir müssen doch
nicht lange überlegen, wer den Krieg vom Zaun gebrochen
hat und wer ukrainische Städte und Dörfer und Krankenhäuser
in Massengräber verwandelt und die Menschen in
die Flucht treibt.
Wie ist das zu verstehen, wenn Mitbürger, die sich um den
Klimawandel sorgen und „natürlich“ klimaneutral in den
Urlaub oder sonst wohin reisen, die seltene Tierarten vor
dem Aussterben bewahren wollen, Pflanzen und Insekten
in ihr Herz geschlossen haben, Bio-Produkte kaufen, aber
dem Elend ihres Nachbarn regungslos zuschauen und dabei
murmeln „was kann ich dafür?“
Wo bleibt da die vielzitierte Empathie? Die Gesellschaft ist
kalt geworden. Ein Hoch dem Wohlfühlfaktor und dem
„geilen“ Fun-Erlebnis!
freiheit
freiheit
hab ich
sklave
des tuns
bange dies
zu leben.
trost in dem
der freiheit
geschenkt.
pflicht muss
ich leben
h.oeggl
124
Privater Raum ging verloren
Was haben das Internet und die sozialen Medien bloß
aus unserer Gesellschaft gemacht? Diese Frage sollte sich
eigentlich jeder stellen. Die letzten Jahrzehnte haben wir
vermutlich alle mehr oder weniger ernsthaft damit zugebracht,
die Revolution der Kommunikation zu begreifen.
Sie ist so enorm, dass im Vergleich dazu die Erfindung des
Buchdruckes nur als eine Fußnote der Geschichte wahrgenommen
wird.
Was wir alle gewaltig unterschätzt haben und was auch keiner
von uns geahnt hat, ist Realität geworden. Wie sich täglich
zeigt und wie viele schon persönlich erfahren mussten,
sind es vor allem die sozialen Medien die ultimativ neue
„Dogmen“ verbreiten und konträre Meinungen zermalmen.
Wir wurden gezwungen zu lernen, in dieser neuen
Welt mit Facebook, Instagram, Twitter, YouTube, tiktok
oder WhatsApp zu leben und zu arbeiten, in der wir zu
jeder Zeit ein Gespräch mit einer einzigen Person oder aber
mit Millionen Menschen führen können.
So wurde die Trennung zwischen privatem und öffentlichem
Raum faktisch aufgehoben. Was wir von jedem
beliebigen Platz aus von uns geben, – Privates, Familiäres
und Intimes – kann an einem anderen Ort gepostet werden,
wo es nicht nur die ganze Welt erfährt, sondern auch
für alle Zeiten abrufbar ist. Wir sind also aufgefordert,
uns zu überlegen, wie wir online so kommunizieren und
agieren, als würden wir dies ohnehin vor aller Augen tun,
natürlich im Wissen, dass ein einziger Ausrutscher jederzeit
von überall abrufbar ist.
125
Die sozialen Medien sind ein komplexes System an Vorstellungen.
Es indoktriniert uns, dort könne man über alles
reden und schreiben, auch über unseren persönlichen
Kummer. Am besten, wir konzentrieren uns als Nutzer
nur noch auf unsere kleine Welt.
126
Wir schrumpfen und vergreisen
Laut Statistik Austria nimmt die Zahl der Menschen
in Österreich ohne Zuwanderung immer mehr ab und
ihr Altenteil steigt rapide an. Wir schrumpfen und vergreisen
demnach oder man versucht gegenzusteuern.
Eine Möglichkeit: wieder mehr eigene Kinder.
Dies ist leichter gesagt als verwirklicht. Drakonische
Maßnahmen waren schon im antiken Griechenland
und in Rom untauglich, den extremen Kindermangel
zu überwinden.
Wir müssen begreifen, dass wir in Zukunft existentiell
gefährdet
sind, wenn wir unsere Alten, Kranken und
Pflegebedürftigen nicht mehr aus eigener Kraft versorgen
können, wenn tausende Lehrstellen und Arbeitsplätze
ohne Personal unbesetzt bleiben. Solche Menschen sind
rar. Österreich braucht keine opportunen Hier-und-heute-
Politiker, diese sollten sich vielmehr zu einer kontrollierten
Zuwanderung durchringen.
Es ist also keine Gutmenschen-Marotte, wenn man Mitmenschen,
die wegen Terror, Hunger und Kriegen ihre
Heimat verlassen mussten, aufnimmt. Offene Tore sind
freilich eine starke Herausforderung. Vorausgesetzt ist
ein ernsthafter Wille zur Integration, das Erlernen der
Sprache und die Anerkennung der Normen unseres Landes.
Als im Jahr 1845 die Kartoffelfäule Irland heimsuchte
und die Menschen im Elend versanken, flohen zwei Millionen
Iren in die USA. In der „Neuen Welt“ wurden
sie mit Ablehnung und Gewalt empfangen. Sie setzten
127
sich durch. Zu den Hungerflüchtigen von damals zählten
auch die Vorfahren von John F. Kennedy.
128
Sprache färbt die Gesellschaft
Kein Zweifel, die Sprache ist politisch! Sie ist heute nicht
mehr bloß ein Mittel des Ausdrucks, sondern eine Macht,
welche die Gesellschaft formt. Statt Ansichten zu respektieren,
wird bestimmt, was gut und was böse ist. Der Genderzwang
ist typisch für den Trend. Das Dogma lautet:
Nur wenn wir alle gendergerecht sprechen, kann die geschlechtsspezifische
Ungleichheit überwunden werden.
Wer das anders sieht, gehört schnell zum Feindbild eines
typischen Mainstreams: er ist hoffnungslos konservativ
und politisch eher rechts.
Wenn jedoch die Ideologie dominiert, leidet die Qualität
der Sprache und des Ausdrucks. Maturanten oder Uni-
Absolventen können heute zwar perfekt gendern, aber
viele wissen nicht, was der Konjunktiv ist. Die Grammatik
ist nun einmal das Fundament der Sprache und keine
Lappalie, denn ohne sie können wir uns überhaupt nicht
verständigen.
Gerade die Unkenntnis des Konjunktivs ist verräterisch,
denn sie weist auf ein analytisches Problem hin. Wer grammatikalisch
nicht mehr sauber trennt zwischen den Ebenen
der indirekten Wiedergabe, der Tatsachen und der eigenen
Wertungen, vollzieht diese methodisch notwendige Trennung
auch inhaltlich nicht. So wird dann etwa die bloße
Wiedergabe einer Position schon als Parteinahme verstanden
oder es wird etwas als Tatsache gesetzt, was eine bloße
Weltanschauung ist. Das Gendern gehört dazu.
Es ist nicht die ewiggestrige Litanei der Älteren über den
Bildungsverfall der Jüngeren. Es geht nicht um einen kul129
turkritischen Abgesang des Abendlandes. Das Problem
ist größer, denn die Politisierung der Sprache färbt die
öffentliche Debatte und hat einen erheblichen Einfluss auf
jene, die tagtäglich das Weltgeschehen beschreiben und
bewerten: die Medien.
130
Unantastbar
Wenn heute in europäischen Städten vermummte Truppen
durch die Straßen ziehen, unbehelligt mit Hakenkreuz
auf der Brust, offen gegen Israel demonstrierend, ist
das ein Fanal. Die schweigende Gesellschaft am Straßenrand
ist mittendrin. Politik und Justiz haben bislang nicht
angemessen darauf reagiert. Diese Seite einer unheilvollen
Geschichte darf sich nicht wiederholen.
„Einige sind niemand!“ – „Juden sind niemand!“ - So
lautete die zynische Staatsdoktrin der Nazis. Der Theatermacher
George Tabori hatte die Antwort darauf: „Jeder ist
jemand!“ Damit hat er das wichtigste Gebot unserer Zivilisation
auf den Punkt gebracht, die Unantastbarkeit der
Menschenwürde. Alle Schlussstrichfantasien und Relativierungen
der Geschichte, die in den verwirrten Hirnen
einzelner Unbelehrbarer herumgeistern, und der Versuch,
sich aus der Verantwortung zu ziehen, sind unerträglich.
Eine Zuschauerdemokratie ist gefährlich. Angesichts zunehmender
Gefährdung unserer westlichen Demokratien
gilt das Gebot der Wachsamkeit. Aufkeimender Hass und
Ausgrenzung müssen sofort im Keim erstickt werden.
Hass gegen Mitmenschen und Andersdenkende kommt
nicht plötzlich. Er zieht eine menschenverachtende Spur
durch die Geschichte. Er wächst mit dem skrupellosen
Selbstbewusstsein des Hassenden und mit der Gleichgültigkeit
der Gesellschaft. Feindseligkeit, Animositäten,
offene Hetze und unverhohlener Antisemitismus und
Rassismus finden ihre Plattform im Internet und in den
sozialen Medien. Die Verrohung der Sprache am Bier131
tisch, sowie die Hatz gegen Religionen und gegen alles
Fremde greifen schnell um sich, wenn sich die Gesellschaft
in unserer Demokratie nicht offen dagegenstemmt.
Hat sich unser Koordinatensystem bereits so verschoben,
dass wir gegen die schleichende Vergiftung unserer Demokratie
sichtlich immun geworden sind? Menschenrechte
sollen die Demokratie schützen; ohne diese gibt
es keine echte Demokratie. Würde, Freiheit und Souveränität
jedes einzelnen Menschen sind unantastbar. Jeder
Einzelne in der Gesellschaft hat die individuelle Pflicht
dafür einzustehen.
132
Verrohung des Denkens
Die von langer Hand vorbereitete Razzia gegen die
„Reichsbürger“ hat uns gezeigt, dass die Behörden in der
Bundesrepublik Deutschland gewappnet und in der Lage
sind, sofort und robust eingreifen zu können. Trotzdem
ist es beunruhigend, nicht zu wissen, was sich da an den
linken und rechten Rändern der Gesellschaft abspielt –
und zwar nicht nur bei unseren Nachbarn, sondern auch
bei uns.
Die Erfolgsgeschichte Deutschlands und Österreichs hat
mit der Stabilität der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg
zu tun. Nicht zuletzt waren es die fundamentalen
Grundsätze, die Kanzler wie Brandt, Schmidt und Kohl in
Deutschland oder Raab und Kreisky in Österreich, trotz
gegensätzlicher Gesinnung, miteinander verbanden: Es
waren die Stärkung der Mitte unserer Gesellschaft und die
strikte Abgrenzung gegen jeden Extremismus.
Die Klarheit dieser politischen Gedankenwelt scheint in
den letzten Jahren verdampft. Es hört sich an wie eine
böse, skurrile Realsatire, wenn heute plötzlich ein abgehalfterter
Prinz auftaucht und mit einer kompletten
Regierungsmannschaft im Ärmel und umsturzbereiten
Soldaten die Demokratie erschüttern will.
Wie konnte es soweit kommen? Es ist die Verrohung des
Denkens und der Sprache und es ist das Wühlen in albernen
Verschwörungstheorien, die sich an den gesellschaftlichen
Rändern, links und rechts, breitgemacht und
etabliert haben. Jetzt ist es Sache der Behörden nachzuspüren,
wo sich Umsturzfantasien eingenistet haben und
133
wie tief bereits die Strukturen der „Reichsbürger“ in der
Gesellschaft ausgeprägt sind.
Alle Freunde einer liberalen Demokratie müssen zur
Kenntnis nehmen, dass die Rechtsstaatlichkeit von der
Wehrhaftigkeit und dem Respekt vor dem Gesetz, vor
dem alle gleich sind, abhängt.
134
Woher kommt diese Gewalt?
Wir sollten genau hinschauen. Wieso treten junge Männer
mit Migrationshintergrund, größtenteils hier geboren
und aufgewachsen, oft so aggressiv auf. Weshalb greifen
sie sogar die Feuerwehr an, wie in der Silvesternacht geschehen.
Warum haben sie offenkundig so viel Spaß an
der Gewalt? Ein Versuch, es zu verstehen.
Der Hintergrund und die Mentalität in den migrantischen
Communities spielen eine große Rolle. Natürlich könnten
es die patriarchalischen Strukturen mit häuslicher Gewalt
sein, in denen diese Jugend aufwächst. Natürlich leben
viele in prekären Verhältnissen und verbauen sich selbst
die wenigen Perspektiven, die ihnen die Gesellschaft lässt.
Sie fühlen sich ausgegrenzt. So eng, wie manchmal ihre
Wohnungen, so klein ist ihre Welt. Sie können nie sie
selbst sein und werden in moralische Korsetts gezwängt.
So wachsen viele Jugendliche mit Feindbildern auf und
sind leider selbst oft ein Feindbild für Menschen, die vor
Angst die Straßenseite wechseln, wenn ihnen ein 17jähriger
mit dunkler Haut und schwarzem Bart entgegenkommt.
Vermutlich lesen und hören diese Jugendlichen
selbst, wie rückständig, kriminell und gewalttätig sie sind.
Für sie gibt es nur ein Schwarz-Weiß im Denken.
Leider hat sich in unserer Gesellschaft kaum ein liberales
Verständnis des Österreicherseins durchgesetzt, das nicht
auf Ethnien basiert, sondern auf staatsbürgerlichem Verständnis
mit Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit. Dies
bedeutet, dass man sich mit fremden Wurzeln in der Gesellschaft
anders wahrnimmt und definiert. Es bleiben
135
für viele offensichtlich nur zwei Seiten: Ausländer oder
Verräter. Entweder man schlägt zu oder man ist ein Feigling.
Die Krise dieser jungen Menschen trifft die kollektive
Identitätskrise unserer Gesellschaft.
136
Die Angst vor dem Superhirn
Welches Ende droht der Menschheit: der Klimatod, eine
neue Pandemie, ein Blackout oder gar ein Atomkrieg?
Auf dem Markt der Hysterien ist es jetzt die pure Angst
vor der Künstlichen Intelligenz (KI). Gemeint ist das
Sprachmodell ChatGPT (Chatbot Generative Pretrained
Transformer), einem Superhirn, bei dem wir über eine
Texteingabe mit unserem Computer menschenähnlich
kommunizieren können. Der letzte Schrei ist die neueste
Version GPT4, die sich sogar selbst Befehle ausdenken
kann.
Führende Wissenschaftler und Zukunftsdenker, darunter
der Bestsellerautor Harari, haben die Gefahr erkannt
und in einem offenen Brief eine sofortige Pause für dieses
„gigantische Experiment“ der Künstlichen Intelligenz gefordert.
Sie warnen davor, dass „nichtmenschliche Intelligenzen
uns zahlenmäßig und geistig überlegen seien,
uns überflüssig machen und wir sogar die Kontrolle über
unsere Zivilisation verlieren könnten.“ Für Elon Musk,
der eigene KI-Pläne verfolgt, sind diese Chatbots bloß
sprechende Papageien, weit davon entfernt, ein Bewusstsein
zu entwickeln.
Die Wucht der Künstlichen Intelligenz ist kaum noch
aufzuhalten, schon gar nicht von Datenschutzbehörden,
die noch mit dem Faxgerät operieren. Umso wichtiger ist
es, schnell technische und ethische Standards zu klären.
Nicht nur Paranoiker und Sektierer glauben, dass wir in
einer Zeit leben, in der sich die Geschichte der Menschheit
entscheidet.
137
Niemand, der Zukunftsbegeisterung mitbringt, kann sich
dem Sog dieser neuen Welt entziehen, die da auf unseren
Bildschirmen zu Tage tritt. Der denkende Mensch sollte
jedoch die Gefahr erkennen, die von einem globalen
Superhirn ausgehen kann, das in Millisekunden Zugriff
auf die Politik und auf das gesamte Weltgeschehen hat.
138
Bollwerk gegen digitale Willkür
Die Stimmung der Menschen in unserem Land ist im
Eimer. Die einen haben Angst vor Veränderungen und
die anderen sehen uns vor dem Niedergang. Brisant wird
diese Unsicherheit überall dort, wo die Coronapandemie
ideologische Frontverläufe aufgeworfen hat: Plötzlich stehen
sich in unserer Gesellschaft radikale Glaubenskrieger
gegenüber – bewaffnet mit zornigen Parolen und wilden
Verschwörungstheorien. Einig sind sie sich eigentlich nur
in einem: im Versagen des Staates.
Wohin steuern Demokratie und Gesellschaft in Österreich?
Sofort helfen kann wohl nur eine mutige und ehrliche
Form des Regierens. Der größte Fehler wäre jedenfalls,
die Impulse zu vergessen, die uns die Pandemie
gegeben hat: jenen zur Solidarität und vor allem jenen zur
Digitalisierung. Corona ist sicher eine ein wenig übertriebene,
aber durchaus reale Kostprobe der Zukunft, nämlich
einer stärker vernetzten Welt und Wirtschaft. Jetzt
muss die Arbeit der Verwaltung, Schulen, Universitäten,
Unternehmen und Verlage durch optimale Digitalisierung
erleichtert und resistent gemacht werden. Die Pandemie
hat den Zustand unseres Landes schonungslos offengelegt.
Bei der Digitalisierung der öffentlichen Prozesse und
Glasfaser-Infrastrukturen haben wir enormen Aufholbedarf,
wie internationale Rankings belegen.
Eigentliche Herrscher der Welt sind eine Handvoll amerikanischer
Technologiekonzerne. Fast 90 Prozent der
mobilen Internetsucher starten weltweit bei Google, 99
Prozent der Smartphones laufen entweder auf Google
139
oder Apple Betriebssystem. Nicht erst in der Pandemie
haben wir erfahren, was für manipulativer Unsinn in den
sozialen Netzwerken gezielt verbreitet wird. Deren Echokammern
bedrohen unsere Demokratie. Aber wir sind
nicht ganz machtlos.
140
Verwüstete Weltstadt
„Alle Religionen sind hier, dann begannen Politik, Verlogenheit
und Uneinigkeit zu herrschen, Gott bestraft sie,“
sagt der obdachlose Mehmet Ismet. Sein Antakya, früher
Antiochia, zählte einst zu den Metropolen des Altertums,
war die Hauptstadt Syriens und Sitz eines christlichen
Patriarchen. Die Liste der Katastrophen ist lang und das
Erdbeben am 6. Februar 2023 hat diese türkische Stadt
weitgehend zerstört.
Über tausend Jahre lang war die Habib-Najjar-Moschee
Begegnungsstätte von Zivilisationen und wurde von
Christen, Muslimen und Juden verehrt. Jetzt liegt sie in
Trümmern. Auch die griechisch-orthodoxe Kirche gibt
es nicht mehr, die Wände der Synagoge weisen Risse auf,
der alte Basar ist eine Ruine.
Neben Rom, Alexandria, Karthago und später Konstantinopel
war Antiochia ein Zentrum des Römischen Weltreichs.
Die Apostel Petrus und Paulus gründeten hier eine
der ältesten christlichen Gemeinden. Die Stadt erlebte
Blütezeiten und Niedergänge, Erdbebenkatastrophen und
Invasoren. 638 eroberten die Muslime Antiochia und vom
10. Jahrhundert an wechselten sich Byzantiner, Muslime,
Kreuzritter und Mamluken in der Herrschaft ab.
Am Ende geriet Antakya noch einmal in die große Politik.
Aus der Konkursmasse des Osmanenreiches ließ sich
Frankreich 1923 vom Völkerbund das Mandat über Syrien
und Libanon übertragen. Dem wurde auch der sogenannte
Sandschak Alexandrette (Iskenderun) zugeschlagen, zu
141
dem die alte Metropole gehörte. Schließlich erhob Kemal
Atatürk Anspruch auf dieses Gebiet.
Viele Bewohner wanderten nach Europa aus. Unter den
christlichen und alevitischen Gemeinschaften und den
syrischen Flüchtlingen kommt es immer wieder zu Spannungen.
Antakya war schon vor dem Beben ein Schatten
seines alten Selbst.
142
Dankbarkeit vergessen
Einst jubelten die Menschen und dankten dem „lieben
Gott“ nach überstandenen Pandemien. Und wir nach
Corona? Unsere Welt, unser Alltag sind seelenlos geworden.
Die moderne Gesellschaft ist darauf programmiert,
zu funktionieren. Der Alltag ist ein System, wo alles ineinander
verzahnt und voneinander abhängig ist. Wenn wir
nicht gegensteuern funktionieren wir künftig nur noch
wie Maschinen.
Auch die Pest endete irgendwann nach langer Zeit. Anders
als heute wurde ihr Ende in Dankbarkeit und Demut
gefeiert. Richtig eingreifen konnte der Mensch ja damals
nicht. Folglich dankte er Gott, dem großen Unbekannten.
An ihn glaubte man trotz allem, weil nichts und niemand
anders denkbar war. Die meisten unserer Zeitgenossen
lächeln milde über diesen naiven Glauben. Aber dokumentiert
diese Naivität nicht doch eine überirdisch-metaphysische
Dimension des Seins?
Das Ende der Corona-Pandemie wurde behördlich proklamiert.
Anders als in der Vergangenheit ist es für die
Menschen nicht mehr Gott, der das Ende der Pandemie
verfügte, vielmehr wurde es durch herausragende Forschung
ermöglicht. Warum ist eigentlich bislang niemand,
weder bei uns, noch in der EU, noch bei der UNO auf
die Idee gekommen, des Pandemie-Endes zu gedenken
und den Bezwingern dieser Seuche national und global
zu danken?
Was das Forscherpaar Özlem Türeci und Ugur Sahin
sowie andere Forscher schafften, ist weit mehr als der
143
Höhenflug der Pfizer- und Moderna-Aktien, es bleibt
ein dauerhafter Dienst am Menschen. Gehören Wunder,
Wirklichkeit und Menschlichkeit nicht irgendwie zusammen?
Mit oder ohne Gott, aber mit Seele. Dankbarkeit
gebührt nicht nur den Forschern, sondern auch unseren
Mitbürgern, die sich als Schicksalsgemeinschaft fühlten
und handelten.
144
Ich lebe gern in diesem Land
Wenn ich heute die Zeitungen durchblättere oder den
Fernseher einschalte, halte ich es kaum für möglich: Geht
das noch? Alles wird runtergemacht: Die Corona-Maßnahmen
nahmen uns die Freiheit, wir versinken in Korruption,
die Wirtschaft verpasst die Zukunft, die Schulpolitik
und überhaupt die Bildung sind unter aller Kanone,
unsere Ersparnisse sind dahin, die Kriminellen tanzen der
Polizei auf der Nase herum… armes Österreich!
Wovor müssen wir eigentlich Angst haben? Wenn es klingelt,
ist es Amazon und nicht einer vom Geheimdienst.
Nein, bei uns ist längst nicht alles Ordnung. Manche Politiker
möchte ich am liebsten aus dem Verkehr ziehen,
wenn sie wieder einmal Widerwärtiges daher rülpsen.
Aber ich kann unserem Rechtsstaat vertrauen, dass all
diese unappetitlichen Chat-Nachrichten und alles, was
nach Korruption schmeckt, aufgearbeitet wird. Dass alles
teurer wird und wir jeden Euro dreimal umdrehen müssen,
allein unserer Wirtschaft in die Schuhe zu schieben,
ist purer Populismus, geht’s doch halb Europa gleich.
Österreich wird zu Recht vom Rest der Welt um vieles
beneidet, um unsere Freiheit, unseren Wohlstand, um
unsere Universitäten, um die Gastlichkeit, um die Urlaubsmöglichkeiten
in einer wunderbaren Natur … um
die schlichte Tatsache, dass hier (fast) alles funktioniert.
Ich lebe in einem Land und in einer Stadt, die von vielen
Nachbarländern um ihr staunenswert gutes Verkehrsnetz
beneidet werden. Ich komme überall billig hin.
145
Die Fundamentalmeckerei wandert stets von links nach
rechts und umgekehrt, ebenso tut dies der Patriotismus.
Je nachdem halt, wer gerade am politischen Drücker sitzt.
Noch eins, trotz der leidigen Söhne-Töchter-Stotterei bin
ich immer noch stolz auf unsere Bundeshymne.
146
Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen zählen
heute zu den prosperierenden Ländern in der europäischen
Staatengemeinschaft. Wie schwer nach der sowjetischen
Herrschaft die Geburtsstunden in die neue Zeit
waren, soll dieser Aufsatz am Beispiel Litauens nach einem
Besuch im Jahr 1992 zeigen.
Erster Frühling in Freiheit
Mai 1992 in Vilnius. Die Menschen kommen und gehen
– die Kathedrale St. Stanislaus in der Altstadt am Fuße
des Burghügels der Oberen Burg, von Stalin einst zur
Kunsthalle umfunktioniert, bleibt den ganzen Tag voll.
Die Gläubigen haben ihre beliebte Kirche wieder zurückerobert.
Auf dem Kathedralen Platz neben dem freistehenden
Glockenturm verkauft eine alte Frau abgegriffene
Heiligenbilder und schlichte Anstecknadeln mit religiösen
Motiven. Die Esten seien die Ökonomen, die Letten
die Politiker und die südlichen Litauer zuständig für das
Geistige, sagte man zu Anfang des Umbruchs, als die drei
baltischen Staaten nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums
urplötzlich wieder in die Freiheit entlassen
wurden.
Christianisiert wurden die Litauer erst 1386 per Federstrich
und als eines der letzten Völker Europas. Für die
Krakauer Hochzeit, die das polnisch-litauische „Commonwealth“
begründete, musste Großfürst Jagiello von
Wilna in aller Eile noch getauft werden. So war die Stanislaus
Kathedrale über Jahrhunderte eine polnische Kirche.
Sie sehe aus wie ein griechischer Tempel oder ein pol147
nisches Staatstheater, schrieb Alfred Döblin und nannte
ihren eigenwilligen Baustil „Weichselantike“. In dieser
Stadt unmittelbar an der weißrussischen Grenze stießen
seit alters her die Kulturen aufeinander und es entstand
ein verschnörkeltes Mitteleuropa. Das polnische Element
behielt auch in den ersten Jahren der litauischen Unabhängigkeit
die Oberhand. Das wiedererstandene Polen
nahm die Stadt 1921 in einem Handstreich dem jungen
Nachbarland Litauen ab. Erst nachdem Hitler und Stalin
im Herbst 1939 Polen erneut geteilt hatten, erwirkte die
Sowjetunion die Rückgabe der historischen Hauptstadt
an Litauen. Doch die Tage des kleinen Landes waren bereits
gezählt. Fortan sollten die Menschen, egal ob Litauer,
Weißrussen, Ukrainer oder Polen, nur noch als Produktions-
und Verwaltungseinheiten zählen.
Der Busfahrer in seinem alten „Ikarus“ weiß genau Bescheid
über seine wiedergewonnene Heimat. „Mit unseren
65.000 Quadratkilometern sind wir nur ein kleines
Land, aber…!“, sagt er nicht ohne Stolz. Etwa 80 Prozent
der 3,7 Millionen Einwohner sind Litauer, neun Prozent
Russen und sieben Prozent Polen, die vorwiegend im Süden
vor allem im Großraum der Hauptstadt leben. Und
sie leben alle unter sich. Die Litauer haben eben litauische
Bekannte und die Polen verkehren mit Polen. Seitdem die
Baltenrepublik im August 1991, nach dem gescheiterten
Putsch der Kommunisten in Moskau, international wurde,
hat sich auch die Lage zwischen Litauen und Polen
entspannt. Der Sprachenbeschluss wurde ja schon unter
dem Druck der tragischen Ereignisse vom Jänner 1990
revidiert: Damals waren beim Angriff einer sowjetischen
148
Eliteeinheit auf das Fernsehzentrum von Vilnius 17 unbewaffnete
Demonstranten getötet worden.
Jetzt, 15 Monate danach, legen Frauen und Kinder täglich
frische Blumen bei den Gedenkkreuzen dieser Opfer
nieder und entzünden Kerzen. Ernst, still, versunken im
Gebet. Die Toten sind zu Märtyrern geworden. „Es ist
so schwer darüber zu sprechen, es war so lustig, bis die
Panzer kamen“ - und nach einer Pause – „heute ist ja,
Gott sei Dank, alles anders“ meint Julia, eine 22jährige
Studentin. Es klingt zuversichtlich. Die verhaltene Wut
der Menschen richtet sich heute gegen die sowjetischen
Soldaten, von denen eineinhalb Jahre nach der Öffnung
immer noch 45.000 im Land stationiert sind. Für die
Touristen ist diese Besatzungsarmee unsichtbar, aber für
Litauer allgegenwärtig in den Kasernen. Erst jüngst hat
Präsident Vytautas Landsbergis den beschleunigten Abzug
der GUS-Truppen aus Litauen verlangt. Sie sollten bis
1994 das Land verlassen.
Die verhaltene Wut der Menschen richtet sich gegen das
Erbe, das die Sowjets hinterlassen haben. Es ist der geistig,
moralische Schutt des Sozialismus, der die Menschen
über Jahrzehnte zermürbt hat. Nun gibt die Jugend Hoffnung
mit ihrem Willen zum Aufbruch in eine neue Zeit.
Arbeitslosigkeit gibt es bisher nicht, aber die Inflation ist
horrend. Die Löhne sind zwar im Vergleich zur Wendezeit
um das Siebenfache gestiegen, die Preise aber um das
Acht- bis Zehnfache. Der monatliche Durchschnittsverdienst
beträgt derzeit um die 3000 Rubel (etwa 300 Schilling).
Wie kann eine Familie damit leben? „Brot und Milch
sind billig“, sagt die promovierte Germanistin Audra, „je149
der muss sich halt irgendwie etwas dazu verdienen“. Ob es
dazu reicht, um 2500 Rubel den Führerschein zu machen
oder sich um 5000 Rubel neue Autoreifen anzuschaffen?
Was soll`s, ein neues Auto ist für die Litauer in diesen
Tagen sowieso ein unerfüllbarer Wunsch. Da gilt es zuerst
einmal die 500 Rubel für die Miete der Zwei-Zimmer-
Wohnung zusammenzukratzen. Das Deprimierende für
die Menschen ist das Wechselbad der Gefühle. Dauernd
hin und her gerissen zwischen Ängsten und Illusionen,
zwischen der Sorge, die große Chance zu verpassen oder
sich nicht mehr zurechtzufinden in der neuen Zeit.
Staatsbetriebe werden jetzt nach polnischem Muster in
Aktiengesellschaften umgewandelt, bis zu 30 Prozent der
Anteile können die Belegschaften erwerben. Jetzt wartet
alles auf den „Litt“, um den verhassten Rubel endlich
loszuwerden. Die Einführung der neuen Währung wird
jedoch immer wieder verschoben. Im Straßenbild machen
sich bereits die ersten Joint-ventures ausländischer
Investoren bemerkbar. Eine amerikanische Computerfirma
wirbt mit überdimensionaler Leuchtschrift. Zwischen
Gebäuderuinen hat sich ein japanischer Konzern eingenistet.
Die mondäne Auslage ist ein Fremdkörper, kein
Passant bleibt stehen.
Die Kolchosen auf dem Land seien zwar seit dem 1. April
dieses Jahres offiziell aufgelöst, hört man, aber geändert
soll sich noch nicht viel haben, es mangle vor allem an
Maschinen. Dabei hat Litauen vor dem Zweiten Weltkrieg
mehr Milch und Fleisch produziert als das reiche
Dänemark. Die Litauer sind heute noch ein Bauernvolk.
Jeder Städter hat Verbindungen aufs Land; über Verwand150
te oder er baut auf einem kleinen Fleck selbst etwas Gemüse
an. Auch die Regierung hat dazu aufgerufen. „Mit
Kartoffeln, Kraut, Äpfeln und Pilzen ist jeder ausreichend
versorgt“, meint eine junge Frau.
Durch sanftes, welliges Land, an Wäldern und unzähligen
kleinen Seen vorbei, führt die gut ausgebaute Straße
nach Kaunas, der zweitgrößten Stadt des Landes. Vilnius
ist die Hauptstadt Litauens, Kaunas die Hauptstadt der
Litauer, heißt es. Man findet hier besser versorgte Läden,
private Valutahotels und zahlreiche Cafés. Weite Teile der
Altstadt sind renoviert. Die Stadt ist wohlhabender, die
Menschen geben sich selbstbewusster.
„Die vergangenen 50 Jahre haben überall ihren Stempel
hinterlassen, wir müssen jetzt näher nach Europa kommen“,
sagt Jouzas Jankauskas, Regierungsberater für Sport
und Tourismus. Er bezeichnet es als vordringlichste Aufgabe,
möglichst viele Tourismusobjekte und Hotels zu privatisieren.
Man stellt sich eine eigene Koordinationsstelle
für den Tourismus vor. Bei der Qualität seien die Gäste
noch bereit, ein Auge zuzudrücken, sagt Jankauskas. Aber
sei einmal der „Neugiertourismus“ vorbei, hätte Litauen
nur dann eine Chance, wenn das Land den Anschluss an
den westlichen Standard schaffe.
Was tut dem Land not – man spürt es fast überall – es
ist westliches Know-how. Ökologische Überlegungen
werden eine große Rolle spielen. Touristische Projekte
werden sich anpassen müssen, um gerade das historische
städtische Bild nicht zu stören. Ein Beispiel für eine
naturnahe Erholung ist durch die Wiederbelebung des
traditionsreichen Seebades Palange an der Ostsee gelunNeuer Text
Rechtsruck Rekordhoch
Während sich die rechten Geschwister im Rekordhoch sonnen, schieben sich die politische Mitte und Rot-Grün hüben wie drüben die Schuld zu, wie es AfD und FPÖ soweit bringen konnten. Die linke Mitte findet also, die rechte Mitte ist schuld, während die rechte Mitte behauptet, es liege an der linken Mitte. Unsinn ist beides.
Der Aufschwung von AfD und FPÖ in Umfragen hat wenig bis nichts mit Nazi-Nostalgie oder Putin-Liebe der neuen Partei-Anhänger zu tun. Diese Menschen haben einfach genug, wie in beiden Ländern gerade Politik gemacht wird. Sie haben den Eindruck, dass in ihrem Land Freiheit und Bürgerrechte immer weniger und eine ultimative Klima- und Migrationspolitik als alternativlos gelten. Sie halten weder die Union noch die ÖVP, geschweige denn die Linken für fähig und mutig dazu, um die Interessen der Mehrheit auch einmal gegen lautstarke Minderheiten zu verteidigen. Die Regierenden werden orientierungslos wahrgenommen.
Richtet man den Blick über die Grenzen hinaus, zeigt sich, dass starke rechtspopulistische Kräfte in den postmodernen Gesellschaften des Westens, wie in Schweden, Italien oder wahrscheinlich bald in Spanien, eine Normalität sind. Während andere Rechtsparteien in Europa zuletzt Frieden mit EU, Nato und Rechtsstaat machten, um den Anschluss an die gesellschaftliche Mitte und die Realität zu finden, driften ihre Kameraden in der AfD und FPÖ immer mehr ins völkisch-esoterische Nirwana.
Die Mehrheitsfindung in der Mitte ist anstrengend, weil man den eigenen Anhängern erst beibringen muss, dass der politische Gegner kein Unmensch ist. Der gesellschaftliche Zusammenhalt ist jedoch in den Zeiten von Krieg, Pandemie, Klimawandel und einem Zerfall der demokratischen Öffentlichkeit kostbar.Neuer Text
Vorwort Konturen
Die Welt der Nachrichten dreht sich rasant. Ungefiltert konsumieren wir täglich aus Zeitungen, Fernsehen, Radio, Facebook, Twitter oder anderen sozialen Medien Meldungen über Kriege, Terror und Katastrophen. Was können wir davon glauben, zumal in der tagesaktuellen Berichterstattung die Hintergründe kaum ausführlich erklärt werden? Wo liegt die Objektivität, wo die Zuverlässigkeit in diesen Nachrichten, die oft aus dubiosen Quellen den Weg in die Wohnzimmer finden? Es bleibt uns daher nichts anderes übrig, wir müssen selbst die Orientierung suchen und das eigene Weltbild schärfen! Weit von jeglicher Besserwisserei will und kann ich natürlich mit meinen Texten keine gültigen Antworten liefern. Die einzelnen Kolumnen wollen nur relevante politische und gesellschaftliche Problemkreise beleuchten, die mir besonders wichtig sind. Dabei wird offenbar, die Krise dieser Welt ist eine moralische Krise. Nur ein Wiedererstarken der Moral und der Empathie kann uns aus dieser Krise führen. In einer Zeit großer Instabilität zeigt sich, dass sich jeder in der Gesellschaft auf seinen Mitmenschen stützen muss. Vielleicht wird dann vieles besser, wenn der Einzelne kein Werkzeug der Manipulation bleibt, sondern die Menschenwürde wieder im Mittelpunkt steht. Beim Schreiben dieser Aufsätze und Kolumnen – einige sind schon in der Tiroler Tageszeitung erschienen – ging es mir immer auch um eine stilistisch prägnante Kurzform der Sprache, die den Kern des jeweiligen Themas auf den Punkt bringt. Ich habe versucht, Inhalte, die es zuließen, so aufzuarbeiten, dass das Lesen dabei auch Spaß macht. Großer Dank gilt meiner Gattin und dem Studia-Verlag Innsbruck, die mich bei der Umsetzung dieses Projekts unterstützt haben. Ohne sie hätte ich dieses Buch nicht schreiben können.
Hubert Oeggl
Die „gestundete Zeit“ ist sichtbar geworden
Mit den Worten „Es kommen härtere Tage. Die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont“ beginnt Ingeborg Bachmanns berühmtes Gedicht „Die gestundete Zeit“. Wenn es vordergründig auch von verlorener Liebe handelt, führt das 1953 veröffentlichte Gedicht doch auch eine düstere Klage über den angeblich restaurativen Zug der damaligen Zeit ohne wirkliche Zukunft. Da irrte sie, denn es waren nach dem Zweiten Weltkrieg viele bessere Tage gekommen.
Doch im Herbst 2023 haben die „härteren Tage“ tatsächlich in erbarmungsloser Realität begonnen. Große Krisen wie Corona, Russlands Überfall auf die Ukraine, Migration, Krieg in Nahost. . . nähren die Ahnung, dass es nicht gut ausgehen wird. Es ist, als wäre die Menschheit von Krisen eingeschlossen. Sind wir verdammt, in Schockstarre zu verharren? Doch es hat sich des Öfteren erwiesen, dass freie Gesellschaften imstande sind, selbst große Wirrnis zu bewältigen.
Die Pandemie
Binnen drei Jahren haben uns mindestens vier Großereignisse überrascht. Corona hat gezeigt, dass es auch den entwickelten Gesellschaften nicht gelungen ist, einem in die Häuser schleichenden Virus zu entkommen. Es war wie ein Zeitsprung Jahrhunderte zurück in eine von der Pest gemarterte Zeit mit Millionen Toten in ganz Europa. Die Corona-Pandemie hat uns völlig unerwartet heimgesucht und tiefe Spuren in der Gesellschaft hinterlassen. Sie hat aber auch die Ängste genährt, dass uns selbst die beste Medizin nicht helfen kann.
Der Überfall
Wie nichtig und verletzbar die europäische Nachkriegsordnung ist, hat uns der barbarische Überfallkrieg Russlands im Februar 2022 auf die Ukraine gezeigt. Wenn sich auch durch den Ukrainekrieg die freie Welt zu einer bislang undenkbaren Einigkeit zusammengefunden hat, an manchen Stellen beginnen die Mauern dieser Geschlossenheit zu bröckeln. Von einer globalen Sicherheit, die wir erwartet haben, ist in einem wenig selbstbewussten Europa fast nichts mehr zu spüren.
Die Migration
Die Kraftlosigkeit europäischer Politik offenbart die Lösungsprobleme der Migration. Es bedarf großer Einigkeit unter den 27 Mitgliedsländern der Europäischen Union, die Flüchtlingsströme stärker zu regulieren, illegal Zugewanderte zurückzuschicken und die Grenzen zu schützen; wohl wissend, dass damit das Thema Migration noch lange nicht gelöst wird. Wie in Zukunft umgehen mit dem Recht dieser Menschen auf würdiges Leben?
Das Heilige Land
Das Heilige Land ist ein Völkerfriedhof, auf ihm ruhen die Kanaaniter. Weder die Palästinenser noch die Juden sind ihre Nachkommen. Ihre Nachfolger hingegen waren zahlreich. Sie alle hielten sich im Lauf der viertausendjährigen Geschichte des Heiligen Landes für die wahren Eigentümer. Indem sie Land in Besitz nahmen, meinten sie, es auch erworben zu haben, sagt der Historiker Michael Wolffsohn. Alle Besitzer des Heiligen Landes, auch Juden und Araber, trugen von Anfang an den Makel, Eroberer zu sein. Die gewaltsame Einnahme des Heiligen Landes war sozusagen ihr Geburtsfehler.
Seit über 150 Jahren tobt nun schon der unheilige Krieg zwischen Juden und Araber um das Heilige Land. Wie unheilig zeigt sich im Sommer 2014, dem Gaza-Krieg zwischen der Hamas und Israel und im Oktober 2023, wobei die Hamas-Terroristen mehr als 1400 Israelis umbringen, mehr als 200 Männer, Frauen und Kinder entführen und die eigene Bevölkerung in Geiselhaft hält: hungernd und als menschliche Schutzschilde. Die Absicht Israels, die Hamas endgültig militärisch zu zerschlagen, ist mehr als verständlich und rechtens.
Die Massaker der Hamas über Jahrzehnte hinweg haben in unvorstellbarer Brutalität bewiesen, dass die israelisch-palästinensische Konfrontation kein „eingefrorener Konflikt“ gewesen ist. Seit 1948 nach dem Rückzug der Briten und einer blutigen, von zahlreichen Terroranschlägen der zionistischen Untergrundorganisation Irgun überschatteten Staatsgründung, lebten die Juden in der Gewissheit, dass es nach dem Holocaust jetzt einen Ort auf der Welt geben wird, auf dem sie mit Sicherheit leben können. Diese Sicherheit ist fragil geworden.
Um den Nahostkonflikt zu verstehen muss man weit in die Vergangenheit zurückblicken. Um das Jahr 70 nach Christus lebten viele Juden rund um die Stadt Jerusalem, dem heutigen Staatsgebiet Israels. Nach der Zerstörung des heiligen Tempels durch die Römer zerstreuten sich die Juden in alle Welt. Die jüdische Diaspora. Dort, wo die Juden gern ihren Staat errichtet hätten wohnten mittlerweile andere Menschen, die arabischen Peleschet, daraus wurden im biblischen Hebräisch die Pelitschim und im Griechischen die Palästinenser. Im Kern geht also darum, dass beide heute Anspruch auf das komplette Gebiet erheben.
In 15 Jahren Gewaltherrschaft war es der Hamas jedenfalls wichtiger, Geld für Raketen und andere Waffen auszugeben, als sich um die zivile Infrastruktur in Gaza zu kümmern. Gaza ist der bei weitem schlechter gestellte Teil der beiden gegenwärtigen Autonomiegebiete der Palästinenser. Auf einem 40 Kilometer langen und rund 12 Kilometer Streifen leben rund zwei Millionen Menschen de facto in einem „Stadtstaat“, jedoch in einem schrecklich verarmten Land unter argen humanitären Verhältnissen. Gaza ist ein gutes Kampfgebiet für Verteidiger, aber ein Albtraum für die palästinensische Bevölkerung, die dort beinahe schutzlos Angriffen ausgesetzt ist und keine Verbindung zum Westjordanland, das fast siebenmal so groß wie Gaza ist, hat.
Die Hamas sind nicht „die Palästinenser“, vielmehr ist diese Terrorgruppe eine der vielen Katastrophen, die das gepeinigte palästinensische Volk ertragen muss. Die Hamas ist ein Ableger der Moslembruderschaft, deren Grundsatz ist die Todesindustrie: Sie bringt keine Wohlfahrt, keinen Wohlstand, keine Bildung, sondern nur den Tod. Das darf nicht vergessen werden, auch wenn im Westjordanland viele Palästinenser jubeln. Sowohl die Hamas als auch die Hisbollah im Libanon, die über ein gewaltiges Waffenarsenal verfügt, sind Werkzeuge des Iran.
Um zu verhindern, dass es so weit kommen konnte, hätte auch Israel mehr tun müssen. Gemäßigten Palästinensern hätte man mehr Erfolge bescheren können, die vielleicht zu mehr Rückhalt in der Bevölkerung für einen friedlicheren Weg gewesen wären. Zu lange haben die Falken und Hetzer in der zerstrittenen israelischen Regierung geglaubt, das Problem mit den Palästinensern nur technisch lösen zu können, mit meterhohen Mauern und Drohnen. Eine provokante Siedlungspolitik tut dann ihr Übriges dazu und stachelt den Volkszorn gegen Israel erst recht auf. Die Stimmen der großen Mehrheit der Bevölkerung, die sich immer wieder für ein mögliches Miteinander zwischen Israelis und Palästinensern eingesetzt haben, verhallen bis heute ungehört.
Ja, auch Europa hätte mehr tun können, um zur Lösung des Israel-Palästinenser-Konflikts beizutragen. Mehr Druck auf beide Seiten, doch Europa hat sich an den Dauerkonflikt gewöhnt und sich jeweils an die eine oder andere Seite geschlagen. Der Nahe Osten ist kein anderer Kontinent. Er gehört zu jener Großregion, von der auch unser Schicksal abhängt. Wie im Kampf gegen den Aggressor Russland muss Europa auch in dieser Region zeigen, dass wir glaubhafte Verbündete beider Seiten sind.
Die Parallelen zwischen den Schauplätzen Ukraine, Israel und Gaza sind kein Zufall, sondern weisen auf einen funktionalen Zusammenhang hin. Durch die migrationspolitischen Folgen der Nahost-Krisen werden jene Parteien in Europa groß, die Putin fördert. Wenn wir den Nahen Osten links liegen lassen, werden wir ihn Russland oder China überlassen. Wir drohen dann wieder in jene energiepolitische Abhängigkeit zu rutschen, aus der wir uns in Osteuropa gerade zu befreien versuchen. Und nach wie vor gilt, wenn Juden und Araber nicht endlich einen Schlussstrich ziehen und einen lebensfähigen Kompromiss finden, werden eines Tages beide die Verlierer sein.
Wem gehört nun das Heilige Land wirklich? Es gehört niemandem, es gebührt allen. Allen, die überlebt haben. Allen die dort leben wollen oder dort leben müssen. Das Heilige Land gehört den Überlebenden der verschiedenen Völker, natürlich auch Juden und Arabern. Es in einen Nationalstaat umzuwandeln ist unrealistisch, meint Michael Wolffsohn. Es kann de facto nur eine Zwei-Staaten-Lösung geben.
Das Vertrauen
Die „härteren Tage“ sind angebrochen, auch in Europa. Für uns aber, die wir in diesem Europa und in einer Demokratie mit gesicherter Gewaltenteilung leben, besteht kein Grund angesichts der Einkreisung so vieler multipler Krisen, in Ratlosigkeit und apokalyptische Sorgen zur verfallen. Wir verfügen als liberale Demokratien über die notwendigen Instrumente, auch „härtere Tage“ zu meistern. Die Politik muss endlich lernen, über den Tag hinaus und in Visionen zu denken. Die Gesellschaft muss lernen, auf sich zu vertrauen.
Quellen:
Tim Marshall: „Die Macht der Geographie“
Michal Wolffsohn: „Wem gehört das Heilige Land“
Ingeborg Bachmann: Gedicht „Die gestundete Zeit“
Gefährdete Demokratie
Ob links oder rechts, an beiden politischen Rändern verstehen sich die Radikalen als die wahren Vertreter des Volkes. Sie wissen genau, was der Bürger braucht, was ihn plagt und wie sein Leben wieder sorgenfrei sein wird. Eine echte Demokratie eben: „Wir sind das Volk“. Davon träumen jetzt auch die Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ und beschwören auf ihrer Webseite einen „Wendepunkt“ herauf, an dem sich die Gesellschaft erheben werde, um ihre Vorstellung von Demokratie zu verwirklichen, „die das Potential hat, uns aus der Todesspirale herauszuführen.“
Das Ziel der „Letzten Generation“ ist mit der Klimaneutralität bis 2030 vorgegeben und müsse für das Parlament bindend sein. So wird die repräsentative Demokratie praktisch ausgehebelt. Rhetorisch aber treffen sie den Nerv der Zeit und gegen den Populismus von links und rechts und den Aktivitäten der Klimaaktivisten sind erodierende Institutionen machtlos.
Die Europäische Union ist zutiefst undemokratisch, sie müsse sterben, damit das wahre Europa leben könne, heißt das Mantra von Rechtsaußen. Noch sind wir glücklicherweise ein stabiler Rechtsstaat und eine funktionierende Demokratie. Gleichwohl sorgen Populisten dafür, dass das Vertrauen vieler Bürger in die Kompetenz der Politik sinkt. Alles was unter „Establishment“ firmiert, steht plötzlich unter Verdacht. Dazu gehören die Hetze gegen Presse, Kirche, Bildung, Wirtschaft, Leugnung von Fakten und Infragestellung der Wissenschaft.
Das sind gefährliche Angriffe gegen Grundwerte der Demokratie. Was es jetzt braucht, ist eine Stärkung der gesellschaftlichen Mitte, das heißt für alle Politiker, die Medien eingeschlossen, nicht den populistischen Versuchungen zu erliegen. Eine Rückkehr zur Sachlichkeit.
Sprache färbt die Gesellschaft
Kein Zweifel, die Sprache ist politisch! Sie ist heute nicht mehr bloß ein Mittel des Ausdrucks, sondern eine Macht, welche die Gesellschaft formt. Statt Ansichten zu respektieren, wird bestimmt, was gut und was böse ist. Der Genderzwang ist typisch für den Trend. Das Dogma lautet: Nur wenn wir alle gendergerecht sprechen, kann die geschlechtsspezifische Ungleichheit überwunden werden. Wer das anders sieht, gehört schnell zum Feindbild eines typischen Mainstreams: er ist hoffnungslos konservativ und politisch eher rechts.
Wenn jedoch die Ideologie dominiert, leidet die Qualität der Sprache und des Ausdrucks. Maturanten oder Uniabsolventen können heute zwar perfekt gendern, aber viele wissen nicht, was der Konjunktiv ist. Die Grammatik ist nun einmal das Fundament der Sprache und keine Lappalie, denn ohne sie können wir uns überhaupt nicht verständigen.
Gerade die Unkenntnis des Konjunktivs ist verräterisch, denn sie weist auf ein analytisches Problem hin. Wer grammatikalisch nicht mehr sauber trennt zwischen den Ebenen der indirekten Wiedergabe, der Tatsachen und der eigenen Wertungen, vollzieht diese methodisch notwendige Trennung auch inhaltlich nicht. So wird dann etwa die bloße Wiedergabe einer Position schon als Parteinahme verstanden oder es wird etwas als Tatsache gesetzt, was eine bloße Weltanschauung ist. Das Gendern gehört dazu.
Es ist nicht die ewiggestrige Litanei der Älteren über den Bildungsverfall der Jüngeren. Es geht nicht um einen kulturkritischen Abgesang des Abendlandes. Das Problem ist größer, denn die Politisierung der Sprache färbt die öffentliche Debatte und hat einen erheblichen Einfluss auf jene, die tagtäglich das Weltgeschehen beschreiben und bewerten: die Medien.
Was alle eint, ist der Hass
Die Werte, die die Anhänger einer radikalen Ideologie mit der Etikette „Nationalkonservativismus“ vertreten, klingen eigentlich wenig kontrovers und ganz vernünftig: heile Familie, Pflege der Tradition, ein Leben in Freiheit und vor allem ein ausgeprägtes nationales Bewusstsein. Wer könnte schon etwas gegen diese hehren Werte haben?
Doch bei der Beantwortung dieser Frage zeigt sich, dass diese Nationalkonservativen weniger durch diese Werte und Menschlichkeit verbunden sind, als durch Hass auf ihre angeblichen Feinde. Wer sexuell anders gepolt ist, feministisch agiert, offen gegenüber Andersdenkende und Fremde ist, libertär denkt und will, dass jeder nach seiner Façon glücklich werden soll, ist ihnen ebenso suspekt wie alle Menschen, die den reinen Nationalstaat nicht für das Nonplusultra der Geschichte halten.
Vorreiter dieser radikalen Ideologie namens „National Conservatism“ sind die USA und Russland. Als glühender Anhänger und Speerspitze für die EU fungiert der Ungarische Premier Viktor Orban, der sich ein Europa dieser Richtung wünscht. Ideologischer Guru und Namensgeber der obskuren Vereinigung ist der britische Philosoph Edmund Burke, der sich durch seinen Hass auf die Juden auszeichnet. Diesen wirft er vor, Gegner aller wahren Engländer und der christlichen Tradition zu sein. Mitte Mai hält die amerikanische „Edmund Burke Foundation“, so etwas wie das geistige Zentrum, ihre Jahreskonferenz in London ab.
Den Nationalkonservativen schwebt ein Europa wie Lateinamerika vor: national zersplittert und darum einflusslos. Ein Scherzbold, wer dahinter das Interesse bestimmter nordamerikanischer, russischer und chinesischer Kreise munkelt. Divide et impera war schon immer das Motto der Imperialisten.
Die Angst vor der Zukunft
Wie soll das Leben in einer „klimaneutralen“ Welt eigentlich aussehen? Was wird die Zukunft bringen? Nichts Gutes, wenn wir dem globalen Diskurs der Politik Glauben schenken. Handeln wir nicht sofort, dann bricht in weniger als einer Generation das Verhängnis über die Menschheit herein: Hitzewellen, Gletscherschmelze der Polarkappen, steigender Meeresspiegel. Autos, Dünger, Gasheizungen, Kohlekraftwerke… heizen mit C0² und Stickstoff den apokalyptischen Prozess weiter an, bis die Welt zu Hölle wird, unbewohnbar.
Wenn sich jemand mit dieser Weltsicht beim Psychologen einfindet, bekommt er vermutlich Stimmungsaufheller und Therapiegespräche verordnet, um aus seinem schwarzen Loch herauszukommen. Das Kollektiv der Menschheit macht jedoch mit diesen Schreckensvisionen weiter munter Politik. Ein Verzicht auf die moralischen Pflichten zur Rettung künftiger Generationen kommt keinesfalls in Frage. Was uns in einer „klimaneutralen“ Welt erwartet, bleibt in den politischen Verheißungen auffallend blass. Das hat seine Gründe, denn wie sollte die Zukunft von Milliarden Menschen aussehen, wenn nicht defensiv und verängstigt?
Wann wäre das Klima je gerettet? Wie passt das zusammen, dass der Mensch an sich gut ist, aber seinen Lebensraum kaputt macht? Was sagt das über das Gottesbild von Theologen und Ökophilosophen aus, vor deren Augen die Menschen die Schöpfung schicksalhaft zerstören? Antworten darauf werden jenseits politischer Pragmatik am besten an die Nachwelt delegiert. Ob die ökologische Wende unsere angeschlagene Zeit aus ihrer Krise retten wird? Wird auch die Zukunftslosigkeit der „Letzten Generation“ - wie jede Utopie - bald zur behaglichen Vergangenheit gehören? Das letzte Wort behält die Natur.
Lulas falsches Öko-Spiel
Die naiven Europäer, wie jüngst der am Amazonas zu Tränen gerührte deutsche Klimaschutzminister Robert Habeck, glauben offenbar alles, was der neue brasilianische Präsident Lula da Silva verspricht. Westliche Politiker sind ihm und seinen Null-Abholzungs-Versprechungen auf den Leim gegangen. Sie zahlen Hunderte Millionen Euro für Schutzprogramme, obwohl er in seinen 100 Tagen Amtszeit bisher schon mehr Regenwald abholzen ließ, als sein rechtspopulistischer Vorgänger Bolsonaro.
Die unfassbare Zerstörung des Regenwaldes sollte die Europäer wachrütteln. Im Cerrado, laut WWF „eine Ökoregion der Superlative und für den Klimaschutz und den Erhalt der Biodiversität von elementarer Bedeutung“, liegt die Abholzung entlang der Frontlinie zur Landwirtschaft mit 1375 Quadratkilometern im ersten Quartal 2023 höher als in allen vier Vergleichs-Quartalen Bolsonaros. Die Klimakiller Rindfleisch- und Soja-Industrie haben grünes Licht für Expansion.
Vor einem möglichen Freihandelsvertrag der südamerikanischen Mercosur-Staaten mit der EU soll die brasilianische Agrarindustrie kräftig „Fläche machen“. Seit unter Lula da Silva die Kettensägen noch schlimmer rasseln, herrscht in der Europäischen Union Schweigen, die aktuelle Umweltzerstörung wird verharmlost. Was die Regierung in Brasilia von sich gibt, wird ungeprüft übernommen.
Um Lula aus der Schusslinie zu nehmen, liegt die politische Verantwortung für die Abholzungen plötzlich nicht mehr beim Präsidenten, sondern auch bei Provinz-Gouverneuren. Der Linkspopulist hatte schon in seinen ersten Amtszeiten keine Probleme damit, Umweltversprechen sofort zu brechen. Er hat erkannt, dass sein falsches Spiel den größtmöglichen Profit bringt. Der große Verlierer ist der Amazonas.
37 Jahre nach Tschernobyl
Man sprach von einer Zeitenwende, als am 26. April 1986 das Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der südukrainischen Stadt Pripjat explodierte. Damals noch Raum der Sowjetunion. Im Umkreis von zehn Kilometern ist das Gebiet sicher Zehntausende von Jahren unbewohnt. Auf verlassenen Häusern hängen heute noch die Losungen aus kommunistischer Zeit. Ihnen kann die Strahlung nichts anhaben. Aber jeder fünfte Weißrusse lebt heute auf verseuchtem Gebiet. Auf 100.000 Einwohner kommen 6000 Krebskranke.
Österreich gehörte 1986 zu den am stärksten betroffenen Ländern. Wie viel Cäsium in die Lebensmittel gekommen ist und wie viel Krebserkrankungen die Folge waren, sind Thema der Statistiker. Heute sei die Furcht vor den Spuren von Tschernobyl unnötig, versichern uns Experten. Übrig bleibt jedoch die Ungewissheit, ob wir je ausreichend informiert worden sind. Was wurde verschwiegen, welche Informationen durften überhaupt in den Westen gelangen?
Immerhin hatte dieses Reaktorunglück dem Ausbau der Kernenergie im Westen ein Stoppsignal entgegengesetzt und die Bemühungen um alternative Energiequellen intensiviert. Die meisten Atomkraftwerke Europas wurden vom Netz genommen. Kaum war die Hysterie dieser Tage gewichen, erschütterte im Jahr 2011 ein furchtbares Erdbeben mit einem verheerenden Tsunami die Welt. Nach der teilweisen Zerstörung des japanischen Atomkraftwerkes Fukushima ist auch diese Gegend jetzt verseucht. Dann kam der Ukrainekrieg, Europa stürzte in die Energiekrise und einige Länder setzen trotz allem wieder auf Atomkraft.
Tschernobyl, Fukushima und das ukrainische AKW Saporischschja, das immer wieder unter russischen Beschuss gerät – es bleiben drei erschreckende Monumente. Ein Menetekel drohenden Unheils?
Zwischen Ohnmacht und Zuversicht
In meinen Jugendjahren nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten wir die Gegenwart als Chaos und Unsicherheit. Gefühlt war alles im Umbruch: Gesellschaft und Politik, Wirtschaft, Kultur und die Kirche. Die alten Ordnungen waren brüchig geworden, neue Strukturen, die uns Halt und Sicherheit geben sollten, wurden ersehnt, waren aber noch nicht in Sicht.
Dieser Zwischenzustand setzte sich fort, bis der Staatsvertrag den Österreichern neues Selbstverständnis schenkte und wir am Radio aufgeregt Leopold Figls leidenschaftliches „Österreich ist frei“ mitverfolgten. Die Kirche kam dann nach dem konziliaren Zwischenhoch neu und tiefer in die Krise. Europa und die Welt waren noch immer im Kalten Krieg festgefahren, bis der Kommunismus scheinbar implodierte. Während sich im Nahen Osten bedrohliche islamische Revolutionen ereigneten, verschärfte sich gleichzeitig die weltweite soziale Ungleichheit und die ökologischen Probleme traten immer massiver zu Tage. Und wieder fühlte man sich unsicher im Wartestand und wurde ungeduldiger.
Der Weltfriede, den man sich nach dem vermeintlichen globalen Sieg der demokratischen und kapitalistischen Systeme erwartet hatte, ließ auf sich warten. Nine-Eleven war das nächste Schlüsselereignis und brachte eine längst überwunden geglaubte finstere religiöse Gewalt zum Ausbruch. Mit China drängte sich immer heftiger eine neue bislang unbeachtete Weltmacht auf, während in Europa der Zusammenhalt schwächelte. Die Flüchtlingsströme führten zu menschlichen und politischen Verwerfungen.
Nach der Migrationswelle im Jahr 2015 lag bleierne Schwere über ganz Europa. Wieder aufflammender Nationalismus und Rechtspopulismus, Terror, Rassismus und Antisemitismus, in vielem angstbesetzt und hassgesteuert, entstanden aus dem Nichts. Regime wurden zusehends autokratischer und totalitärer, die Demokratie wirkte bedroht. Die Kirche wurde durch die Aufdeckung ihrer Skandale in ihrem Selbstbild und Wirken erschüttert.
Und heute? Das über Jahrzehnte hin Unvorstellbare ist eingetreten. Es herrscht wieder Krieg in Europa. Es ist kein Bürgerkrieg wie beim Zusammenbruch Jugoslawiens. Ein hinterhältiger Angriffskrieg der russischen Weltmacht gegen die souveräne Ukraine. Damit geht am alten Kontinent die längste Friedensperiode der Geschichte zu Ende. Sterbende Menschen, zerstörte Infrastruktur, Cyberwar, Sanktionen: Ein hybrider Krieg, beim dem die Schlachtfelder unüberschaubar sind und die größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg zu beklagen ist. Dieser Krieg wird militärische Auswirkungen auf Europa und die Welt haben. Der Kalte Krieg war nie wirklich vorüber müssen wir erkennen. In Amerika, dessen politische Kultur nach Trump verrottet ist, will die neue Führung wieder die transatlantischen Beziehungen pflegen und zurück zu alter Weltmachtstärke. Afrika wird zum Armenhaus und China erscheint immer bedrohlicher.
Wenn die Menschheit die schreckliche Plage Corona -- gleichwohl die größte soziale Herausforderung unserer Gesellschaft mit zwei Jahren erzwungener Häuslichkeit und Kontaktreduzierung -- überwunden hat, wird sie sich weiterhin vielen drängenden Problemen, insbesondere dem Klimawandel und der Migration widmen müssen. Entweder es gelingt in den nächsten Jahren eine grundlegende Transformation unserer Art und Weise, den Planeten Erde zu bewohnen, oder wir steuern auf eine humanitäre, biologische und ökologische Katastrophe globalen Ausmaßes zu. Noch aber gibt es nach wie vor Hoffnung. All diese Mühsal hat das technokratische Selbstbild der Menschheit erschüttert und in ihrer Unbezähmbarkeit immer mehr Zeitgenossen verängstigt. In der Konkurrenz mit anderen Weltanschauungen schwächelt das Christentum und die Kirchen schaffen es nicht, ihre innere Zerrüttung aufzuarbeiten und ihre Botschaft zu vermitteln.
Wie reagieren die Christen? Einige träumen von einer Kirche, irgendwie heil eingebettet in festen Ritualen. Sie idealisieren ein Christentum des 19. Jahrhunderts, rückgreifend auf ein verklärtes Mittelalter, das es so nie gab. Andere klagen hartnäckig überfällige Reformen ein und nicht wenige versanden in abstrusen Verschwörungsideologien. Bei allen Gruppen gehört Unzufriedenheit zum vorherrschenden Lebensgefühl. Die Türen stehen offen für Fake News, Lüge und Manipulation. Die Sehnsucht nach Sicherheit, Ordnung und zeitloser Wahrheit wird immer radikaler als Traum entlarvt.
Wie leben Christen in diesem Zustand? Schon vor 2000 Jahren verkündete Jesus die Apokalypse als gegenwärtig und seither hat sich das nicht geändert. Christen dürfen die Dinge dieser Welt dennoch genießen, sie leben in Nähe und zugleich in Distanz zur Welt. Ihre Haltung ist Vertrauen, Geduld, Hoffnung. Der Philosoph der evolutionären Welt, Pierre Teilhard de Chardin SJ, sagt: „Über allem traue der langsamen Arbeit Gottes. Denn das ist Gesetz aller Entwicklung, dass der Weg über verschiedene Phasen der Instabilität geht und sehr lange Zeit braucht.“ Das Dazwischen zu akzeptieren, fordert uns Menschen heraus.
Die Angst vor dem Superhirn
Welches Ende droht der Menschheit: der Klimatod, eine neue Pandemie, ein Blackout oder gar ein Atomkrieg? Auf dem Markt der Hysterien ist es jetzt die pure Angst vor der Künstlichen Intelligenz (KI). Gemeint ist das Sprachmodell ChatGPT (Chatbot Generative Pretrained Transformer), einem Superhirn, bei dem wir über eine Texteingabe mit unserem Computer menschenähnlich kommunizieren können. Der letzte Schrei ist die neueste Version GPT4, die sich sogar selbst Befehle ausdenken kann.
Führende Wissenschaftler und Zukunftsdenker, darunter der Bestsellelautor Harari, haben die Gefahr erkannt und in einem offenen Brief eine sofortige Pause für dieses „gigantische Experiment“ der Künstlichen Intelligenz gefordert. Sie warnen davor, dass „nichtmenschliche Intelligenzen uns zahlenmäßig und geistig überlegen seien, uns überflüssig machen und wir sogar die Kontrolle über unsere Zivilisation verlieren könnten.“ Für Elon Musk, der eigene KI-Pläne verfolgt, sind diese Chatbots bloß sprechende Papageien, weit davon entfernt, ein Bewusstsein zu entwickeln.
Die Wucht der Künstlichen Intelligenz ist kaum noch aufzuhalten, schon gar nicht von Datenschutzbehörden, die noch mit dem Faxgerät operieren. Umso wichtiger ist es, schnell technische und ethische Standards zu klären. Nicht nur Paranoiker und Sektierer glauben, dass wir in einer Zeit leben, in der sich die Geschichte der Menschheit entscheidet.
Niemand, der Zukunftsbegeisterung mitbringt, kann sich dem Sog dieser neuen Welt entziehen, die da auf unseren Bildschirmen zu Tage tritt. Der denkende Mensch sollte jedoch die Gefahr erkennen, die von einem globalen Superhirn ausgehen kann, das in Millisekunden Zugriff auf die Politik und auf das gesamte Weltgeschehen hat.
Die Angst vor der Zukunft
Wie soll das Leben in einer „klimaneutralen“ Welt eigentlich aussehen? Was wird die Zukunft bringen? Nichts Gutes, wenn wir dem globalen Diskurs der Politik Glauben schenken. Handeln wir nicht sofort, dann bricht in weniger als einer Generation das Verhängnis über die Menschheit herein: Hitzewellen, Gletscherschmelze der Polarkappen, steigender Meeresspiegel. Autos, Dünger, Gasheizungen, Kohlekraftwerke… heizen mit C0² und Stickstoff den apokalyptischen Prozess weiter an, bis die Welt zu Hölle wird, unbewohnbar.
Wenn sich jemand mit dieser Weltsicht beim Psychologen einfindet, bekommt er vermutlich Stimmungsaufheller und Therapiegespräche verordnet, um aus seinem schwarzen Loch herauszukommen. Das Kollektiv der Menschheit macht jedoch mit diesen Schreckensvisionen weiter munter Politik. Ein Verzicht auf die moralischen Pflichten zur Rettung künftiger Generationen kommt keinesfalls in Frage. Was uns in einer „klimaneutralen“ Welt erwartet, bleibt in den politischen Verheißungen auffallend blass. Das hat seine Gründe, denn wie sollte die Zukunft von Milliarden Menschen aussehen, wenn nicht defensiv und verängstigt?
Wann wäre das Klima je gerettet? Wie passt das zusammen, dass der Mensch an sich gut ist, aber seinen Lebensraum kaputt macht? Was sagt das über das Gottesbild von Theologen und Ökophilosophen aus, vor deren Augen die Menschen die Schöpfung schicksalhaft zerstören? Antworten darauf werden jenseits politischer Pragmatik am besten an die Nachwelt delegiert. Ob die ökologische Wende unsere angeschlagene Zeit aus ihrer Krise retten wird? Wird auch die Zukunftslosigkeit der „Letzten Generation“ - wie jede Utopie - bald zur behaglichen Vergangenheit gehören? Das letzte Wort behält die Natur.
Der Brexit hat sein Gutes
Die Europäische Union tut sich schwer. Sie hat eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Fiskalpolitik, sie hat die Größe eines Imperiums, jedoch keine geopolitische Relevanz, sie hat ein Demokratie- und Entscheidungsdefizit. Und trotzdem: der jüngsten Umfrage des Pew Research Center zufolge bekunden 72 Prozent der Europäer ihre „Zweckliebe“ zur Union. Die lediglich 42 Prozent in Österreich sind nicht zuletzt populistischer Agitation von rechts zuzuschreiben. In keinem Land hätte ein Referendum nach Brexit-Vorbild eine Mehrheit.
Apropos Brexit. Er hat auch gute Seiten, weil alle sehen können, wie schlecht er funktioniert. „Take back Control!“ So lautete die große Losung der Brexiteers: Wir werden die Herrschaft über die Geschicke unseres Landes den Brüsseler Bürokraten entreißen und dem Parlament in Westminster zurückgeben. Befreit von EU-Papier- und Regelkram wollten sie die Produktionskräfte entfesseln, ein Paradies und Schlaraffenland sollte es werden.
Allerdings, so richtig traute sich Boris Johnson nicht ran. Als er abgesägt und durch Liz Truss ersetzt wurde, verkündete sie das radikalste Steuersenkungsprogramm seit Margret Thatcher. Nach 49 Tagen war Truss Geschichte: Großbritanniens Gläubiger, die von Steuersenkungen nichts hielten, schickten mit der Verteuerung ihrer Kredite die Premierministerin ins Ausgedinge. Wer das Land wirklich regiert, ist somit klar.
Die Zahl derjenigen, die von den Europagegnern hinters Licht geführt werden, sinkt jedenfalls. Um Schritt zu halten, haben Europas Rechtspopulisten die Losung vom Verlassen der EU aufgegeben und reden nun von deren Reform. Law and Order interessiert sie nicht mehr so, heute feiern die Rechten lieber mit Demos antiautoritärer Querdenker.
Woher kommt diese Gewalt?
Wir sollten genau hinschauen. Wieso treten junge Männer mit Migrationshintergrund, größtenteils hier geboren und aufgewachsen, oft so aggressiv auf. Weshalb greifen sie sogar die Feuerwehr an, wie in der Silvesternacht geschehen. Warum haben sie offenkundig so viel Spaß an der Gewalt? Ein Versuch, es zu verstehen.
Der Hintergrund und die Mentalität in den migrantischen Communities spielen eine große Rolle. Natürlich könnten es die patriarchalischen Strukturen mit häuslicher Gewalt sein, in denen diese Jugend aufwächst. Natürlich leben viele in prekären Verhältnissen und verbauen sich selbst die wenigen Perspektiven, die ihnen die Gesellschaft lässt. Sie fühlen sich ausgegrenzt. So eng, wie manchmal ihre Wohnungen, so klein ist ihre Welt. Sie können nie sie selbst sein und werden in moralische Korsetts gezwängt.
So wachsen viele Jugendliche mit Feindbildern auf und sind leider selbst oft ein Feindbild für die alte Oma, die vor Angst die Straßenseite wechselt, wenn ihr ein 17jähriger mit dunkler Haut und schwarzem Bart entgegenkommt. Vermutlich lesen und hören sie selbst, wie rückständig, kriminell und gewalttätig sie sind. Für sie gibt es nur ein Schwarz-Weiß im Denken.
Leider hat sich in unserer Gesellschaft kaum ein liberales Verständnis des Österreicherseins durchgesetzt, das nicht auf Ethnien basiert, sondern auf staatsbürgerlichem Verständnis mit Rechtsstaat, Demokratie und Freiheit. Dies bedeutet, dass man sich mit fremden Wurzeln in der Gesellschaft anders wahrnimmt und definiert. Es bleiben für viele offensichtlich nur zwei Seiten: Ausländer oder Verräter. Entweder man schlägt zu oder man ist ein Feigling. Die Krise dieser jungen Männer trifft die kollektive Identitätskrise unserer Gesellschaft.
Putin und der Kolonialismus
Wenn der Geschichtslehrer Wladimir Putin dem „Westen“ einen fünfhundert Jahre währenden Kolonialismus vorwirft, leugnet er etwas ganz Entscheidendes: Russland ist in Wirklichkeit Teil dieses Westens, nur eine Kolonialmacht unter vielen. Die Eroberungen der Russen lagen freilich nicht in Übersee, sondern auf eurasischem Gebiet. Jahrhunderte von Gewalt, Ausbeutung und Assimilation, wie wenige Beispiele zeigen.
Bei der Eroberung Sibiriens im 16. Und 17. Jahrhundert widersetzten sich Tataren und Jakuten erfolglos der russischen Expansion. Heute lebt Russland zum Großteil vom Öl und Gas aus gestohlenem Land. Das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts russische Territorium in Alaska verkauften die Zaren gar 1867 an die USA.
Der Nordkaukasus und die Schwarzmeerküste um Sotschi wurden hemmungslos russifiziert, hunderttausende Tscherkessen deportiert. Wie selbstverständlich war das Zarenreich im 19. Jahrhundert Mitglied des internationalen Kolonialismusinstituts in Brüssel. Russische und ukrainische Bauern wurden nach Zentralasien umgesiedelt, die ganze Region fiel nach und nach Moskau in die Hände. Die Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine nach dem Ende der Zarenherrschaft 1917 gingen gewaltsam unter, die Bolschewiken holten sich dann gleich das unabhängige Georgien. Zehntausende Esten, Letten und Litauer fielen der Deportation zum Opfer, die Länder wurden russifiziert. Und - Wie sieht Moldawiens Zukunft aus?
Auch Freund Xi in Peking dürfte sich erinnern, dass große Teile der russischen Pazifikregion einst chinesisch kontrolliert waren. Erst nach dem Zweiten Opiumkrieg fielen sie an Russland. Wenn Putin und seine Regimefiguren regelmäßig vom Selbstbestimmungsrecht der Völker reden, ist das purer Zynismus.
Verrohung des Denkens
Die von langer Hand vorbereitete Razzia gegen die „Reichsbürger“ hat uns gezeigt, dass die Behörden in der Bundesrepublik Deutschland gewappnet und in der Lage sind, sofort und robust eingreifen zu können. Trotzdem ist es beunruhigend nicht zu wissen, was sich da an den linken und rechten Rändern der Gesellschaft abspielt – und zwar nicht nur bei unseren Nachbarn, sondern auch bei uns.
Die Erfolgsgeschichte Deutschlands und Österreichs hat mit der Stabilität der Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Nicht zuletzt waren es die fundamentalen Grundsätze, die Kanzler wie Brandt, Schmidt und Kohl in Deutschland oder Raab und Kreisky in Österreich, trotz gegensätzlicher Gesinnung, miteinander verbanden: es waren die Stärkung der Mitte unserer Gesellschaft und die strikte Abgrenzung gegen jeden Extremismus.
Die Klarheit dieser politischen Gedankenwelt scheint in den letzten Jahren verdampft. Es hört sich an wie eine böse, skurrile Realsatire, wenn heute plötzlich ein abgehalfterter Prinz auftaucht und mit einer kompletten Regierungsmannschaft im Ärmel und umsturzbereiten Soldaten die Demokratie erschüttern will.
Wie konnte es soweit kommen? Es ist die Verrohung des Denkens und der Sprache und es ist das Wühlen in albernen Verschwörungstheorien, die sich an den gesellschaftlichen Rändern, links und rechts, breitgemacht und etabliert haben. Jetzt ist es Sache der Behörden nachzuspüren, wo sich Umsturzfantasien eingenistet haben und wie tief bereits die Strukturen der „Reichsbürger“ in der Gesellschaft ausgeprägt sind.
Alle Freunde einer liberalen Demokratie müssen zur Kenntnis nehmen, dass die Rechtsstaatlichkeit von der Wehrhaftigkeit und dem Respekt vor dem Gesetz, vor dem alle gleich sind, abhängt.
Politische Ängste
Greta Thunbergs Programm lautet „I want you to panic“. Das Politikangebot der Grünen beruht zum Großteil auf dieser Angst vor einer Klimakatastrophe. Die Kernkraft ist hochgefährlich, war jahrzehntelang das Angstrezept der Regierungen, auf den lieben Onkel Wladimir haben wir derweil fast unsere gesamte Energieversorgung aufgebaut. Die Putin-Angst wurde all die Jahre fahrlässig unterbewirtschaftet. Dass Politiker auf Ängste der Bevölkerung keine Rücksicht nehmen sollen, klingt nach einem sehr schrägen Handlungsrezept.
Angst gehört zum Menschsein. Manchmal ist sie nützlich, manchmal überflüssig – wir wissen es erst im Rückblick. Auch wenn sie unbegründet scheint, man sollte über sie reden. Während die Ängste vor Corona, vor dem Klimawandel, vor der Kernkraft oder der Inflation Dauerthemen in Talkshows sind, gilt die Angst vor Problemen der Migration manchmal als unaussprechlich. Die Solidarität mit der Ukraine ist zum Glück noch groß und die Angst vor ukrainischen Flüchtlingen klein. Das hängt mit kultureller Nähe zusammen und mit der Vermutung, dass viele nach Ende des Krieges wieder zurückkehren werden. Dass Einwanderung in einem überalterten Land nötig ist und gut sein kann, sollten die meisten inzwischen begriffen haben.
Die weitverbreitete Angst bezieht sich auf außereuropäische Einwanderung, vor allem auf islamische und Ideologien, die unsere Lebensweise ablehnen und verachten. In seinem Roman „Unterwerfung“ schildert Michel Houellebecq die Angst vor feindlicher Übernahme. Sie besitzt einen realen Kern und viele muslimische Flüchtlinge, ob aus Syrien, Afghanistan, dem Iran oder aus Afrika, haben Ängste vor einem unheilvollen Islamismus, denn sie kennen ihn besser als wir, sie haben darunter gelitten.
Universum „Brüssel“
Brüssel ist eine Welt für sich. Auch wenn sich die jüngste Schmiergeldaffäre nicht als die Spitze des Eisbergs, sondern nur als Einzelfall erweisen sollte, wäre sie doch bezeichnend für das, was im Europäischen Parlament und in der EU alles möglich ist. Vermutlich verhält sich die Mehrheit der Abgeordneten korrekt. Doch „Brüssel“ scheint auch dazu zu verleiten, die Grenze zur Vorteilnahme verschwinden zu lassen. Die EU ist eine polyglotte und kosmopolitische Veranstaltung mit hohem Gefahrenpotential.
In der EU neigt man dazu, sich für sakrosankt zu halten. Ein Beispiel dafür lieferte gerade Roberta Metsola, immerhin Präsidentin des EU-Parlaments. Nach Bekanntwerden der Korruptionsaffäre sprach sie starke Worte: „Das Europäische Parlament wird angegriffen. Die Demokratie wird angegriffen!“ Ein bemerkenswertes Ablenkungs- und Umkehrmanöver. Die Aggressoren saßen vielmehr im Parlament, im Hauptquartier. Der Feind lauert immer draußen, drinnen ist die Welt heil.
So heil wie die Welt der NGOs. Diese Lobbyorganisationen prunken gern mit hehren Zielen. Mehr Demokratie, effektive Klimapolitik u.a... Ihre Karten spielen sie konsequent aus. Längst sind sie zu einem veritablen Gewerbe geworden, das in der Beschaffung staatlicher Mittel sehr findig ist. Der NGO-Geist passt mitunter bestens zum hochmütigen Geist der EU.
Der Italiener Panzeri war offensichtlich der Meinung, die Schmiergelder stünden ihm zu. Dass ausgerechnet er eine NGO leitet, die gegen die Straflosigkeit von Verbrechen kämpft, ist wohl bittere Ironie. Nicht Abgeordnete und Institutionen waren es, die diese internationale Gaunerei aufgedeckt haben. Das Verdienst kommt einer Staatsanwaltschaft und vor allem den viel geschmähten Geheimdiensten zu.
Ich lebe gern in diesem Land
Wenn ich heute die Zeitungen durchblättere (rechtsorientierte lese ich nur, wenn ich mich informieren will), und die Nachrichten im Fernsehen höre, möchte ich manchmal laut rufen: Geht das noch? Hört doch endlich auf! Alles wird runtergemacht: Die Corona-Maßnahmen nehmen uns die Freiheit, wir versinken in Korruption, die Wirtschaft verpasst die Zukunft, die Schulpolitik und überhaupt die Bildung sind unter aller Kanone, unsere Ersparnisse sind dahin, die Autos bald auch, die Kriminellen tanzen der Polizei auf der Nase herum…armes Österreich!
Wovor müssen wir eigentlich Angst haben? Wenn es klingelt, ist es Amazon und nicht einer vom Geheimdienst. Nein, bei uns ist längst nicht alles Ordnung, aber ich kann doch unserem Rechtsstaat vertrauen, dass all diese unappetitlichen Chat-Nachrichten und alles, was da nach Korruption schmeckt, aufgearbeitet wird. Dass alles teurer wird, allein unserer Wirtschaft in die Schuhe zu schieben, ist purer Populismus, geht’s doch ganz Europa gleich.
Österreich wird zu Recht vom Rest der Welt um vieles beneidet, um unsere Freiheit, die Qualität der Medien, unseren Wohlstand, unseren Mittelstand, um unsere Universitäten und deren kreative Forschungskraft… um die schlichte Tatsache, dass hier (fast) alles funktioniert. Last but not least: Ich lebe in einem Land und in einer Stadt, die von vielen Nachbarländern um ihr staunenswert gutes Verkehrsnetz beneidet werden. Ich komme überall billig hin.
Die Fundamentalmeckerei wandert stets von links nach rechts und umgekehrt, ebenso tut dies der Patriotismus. Je nachdem halt, wer gerade am politischen Drücker sitzt. Noch eins, trotz der leidigen Söhne-Töchter-Stotterei bin ich als 84Jähriger immer noch stolz auf unsere Bundeshymne.
Migration und Integration
Die europäische Migrations- und Asylpolitik rumpelt trotz zahlreicher Sondertreffen vor sich hin. Das Dilemma: Jeder macht was er will, und jede Regierung vertritt ihre eigene Wahrheit. Österreich reicht es jetzt. Sie nimmt die EU in die Pflicht und fordert eine rigorose „Zurückweisungsrichtlinie“, die helfen soll, Migranten aus sicheren Herkunftsstaaten schnellstmöglich wieder abschieben zu können.
Ob eine Abschottungspolitik unserem Land guttut, sei dahingestellt. Keine Frage: Wir brauchen als rasant alterndes Land mehr Einwanderung. Es bedarf einer dringenden Neuorientierung, um qualifizierte Arbeitsmigranten als Zielort zu binden. Wer jung ist, Sprachkenntnisse, Qualifikationen oder Berufserfahrung nachweisen kann, soll nach Österreich kommen und Arbeit suchen dürfen. Aber auch Flüchtlinge, die bereits im Lande sind, muss der Arbeitsmarkt geöffnet werden. Sie harren in ihren Unterkünften aus und wollen arbeiten.
Die Kanadier machen es vor. Sie kalkulieren kühl, wer dem Land einen dauerhaften Nutzen verspricht, das gilt für Arbeitsmigranten und für Flüchtlinge. Sie erfahren vom ersten Tag an für sich und ihre Angehörigen ein umfassendes Integrationsprogramm. Allen anderen zeigt das Land die kalte Schulter. Jeder illegale Grenzübertritt hat die Abschiebung zur Folge. Im Gegensatz zu uns, sorgen die Kanadier so für einen stetigen Zustrom an qualifizierten Ausländern und benötigen auch keine Notunterkünfte.
Während dort und anderswo Migrantenkinder überdurchschnittlich gute Bildungsabschlüsse erreichen, gilt hierzulande das Gegenteil. Seit Jahren wird ergebnislos an Deutschförderklassen herumgebastelt. Ohne Visionen und nur populistisch ausgerichtet, blockiert sich Österreich selbst seine Zukunft.
Die Heimat hat Konjunktur
Essay
Ist damit alles klar, wenn der römische Philosoph Cicero meint, Heimat sei dort, wo man sich wohlfühlt? Oder ist es doch nicht so? Dieses Wohlgefühl will nicht als kurzfristiges örtliches Dasein mit euphorischen Lebensmomenten verstanden werden. Man muss es zeitlich uneingeschränkt sehen und es hat ein dauerhaftes Sich-Niederlassen im Auge. Es ist demnach eine komplexe Beziehung zwischen Menschen und Lebensraum, die dem Wandel der Zeit unterworfen ist.
Der Heimatbegriff hat wieder Konjunktur. Politische Akteure, wie die deutsche Bundesinnenministerin Nancy Faeser machen sich stark dafür. Sie will den Begriff „Heimat“ positiv umdeuten und so definieren, dass er offen und vielfältig ist. Er soll ausdrücken, dass Menschen selbst entscheiden können, wie sie leben, glauben und lieben wollen. Damit impliziert sie jedoch, dass der Begriff der Heimat zuvor negativ besetzt war. Eine Realität, die ausnahmslos im linksradikalen Milieu vorherrscht. Diese „Heimat“ soll demnach dem politisch extrem-rechten Rand entrissen werden. Die Ministerin scheint zu meinen, Heimat stehe immer noch für eine Art Blut-und-Boden-Ideologie.
Wer heute in Österreich „Heimat“ sagt, kann schon aufgrund der jüngsten Geschichte leicht in Verdacht geraten, falschem Nationalstolz anzuhängen. Freilich lässt sich hierzulande die Salonfähigkeit eines zeitgeistig getunten Heimatbegriffs allein schon durch die Selbstpunzierung der Freiheitlichen Partei als „die soziale Heimatpartei“ festmachen. Ob Heimat dem Diskurs der Rechten entspringt oder ihre politische und gesellschaftliche Vereinnahmung geschichtlich weit früher ihre Wurzeln hat, sei dahingestellt.
Die immer wiederkehrenden Diskussionen um die „Heimat“ zeugen da und dort von einem nach wie vor neurotischen Verhältnis zu diesem Begriff. Dieser verkrampfte Heimatdiskurs lebt vor allem von den Wortspenden geschichtsunmündiger Politiker. Die Bürger und Bürgerinnen sind dabei nur Statisten, deren Heimatgefühle wahlweise gefördert, ausgetrieben oder umgedeutet werden. Die richtige Deutung – wenn es überhaupt eine geben kann – darf nie in den Händen der Politik liegen.
Historische Rückblenden sind vage und vom Nebel der Geschichte umhüllt. In diesen aufflammenden Debatten um den Heimatbegriff tut jedoch eine Erinnerung daran gut, wie die Südtiroler 1939 leidenschaftlich um „ihre Heimat“ gekämpft und gelitten haben. Es ging in den zermürbenden Tagen der Option nicht um ein positives Umdeuten dieses Begriffs, wie es Nancy Fraeser heute vorschwebt. Es wurde um das Dasein gerungen. Die bittere Alternative lautete: entweder du bleibst da in der zunehmend „welschen Heimat“ und läufst Gefahr, südlich des Po angesiedelt zu werden oder du wirst deiner Heimat untreu und wanderst ins Großdeutsche Reich aus. Ob „Dableiber“ oder „Abwanderer“, die Heimat ging auf jeden verloren.
Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns in ihnen, heißt es. Die Gegenwart zeigt uns, wie vielfältig Heimat heutzutage gelebt wird. So haben die vielen muslimischen Zuwanderer in Europa mit einer positiven Deutung von Heimat wenig Probleme. Man schaue sich nur die frenetische Verwendung türkischer Flaggen auf Hochzeiten bei Demonstrationen für ihren Machthaber am Bosporus an. Wenn es aber darum geht, den Heimatbegriff offen und vielfältig zu machen, wie es Politikerwunsch ist, dann ist das ein exklusiver Anschlag auf das, was uns mittlerweile ohnehin eher als territoriale Verhandlungsmasse zwischen verschiedenen Volksgruppen vorkommt, denn als Heimat, die einem vertraut und lieb ist. Es geht nicht um das, was Syrer, Türken oder Somalier unter Heimat verstehen.
Das bisschen Heimatempfinden, das wir alle haben und das wir leben wollen ist es, worum es letztlich geht. So ist auch die Renaissance des Heimatbegriffs, der vorzugsweise in den Unterhaltungsmedien wahrzunehmen ist, einzuordnen. Sie verzeichnen ein vermehrtes Bedürfnis nach Authentizität, Gemeinschaftsgefühl in den Gemeinden und Ursprünglichkeit. Dieser Trend wird dann auch entsprechend durch folkloristische TV-Formate bedient. Und plötzlich sind das Dirndl und die Lederhose wieder cool. Noch vor wenigen Jahren hätte dieses Outfit bestenfalls zur Selbstausgrenzung getaugt. In den 1950iger Jahren wurde einer kriegswunden Generation die heilsame Idylle der heimischen Landschaft auf die Leinwand projiziert. Schon ein Jahrzehnt später wurde dies als anrüchig empfunden.
Heimat ist ein Gefühl, das uns zu eigen ist oder nicht. Es bemisst sich an Dingen, die eben nicht beliebig und für jedermann zugänglich sind. Heimat ist immer auch etwas Exklusive. Wer sich vor einer spezifischen deutschen, österreichischen oder südtirolerischen Heimat mit ihrer eigenen Kultur und klaren Werten scheut, der wird zu einer nicht greifbaren Verhandlungsmasse, die keinerlei integrative Wirkung auf Zuwanderer entfaltet.
Die Welt in der wir leben
Selbstverständlichkeiten mussten wir in den vergangenen Jahren viele über Bord werfen. Schon ab dem verhängnisvollen Jahr 2008 ließen die Banken ihre Schulden vom Staat bezahlen, der Euro wurde zur Haftungsgemeinschaft und zerrinnt nun inflationär dahin. Begraben mussten wir im Lauf der Zeit die Illusion einer Welt, die die Medizin im Griff hat und uns Pandemien nie treffen werden. Aufgeben mussten wir unsere bürgerliche Unabhängigkeit. Reisen und Geselligkeit fielen Corona zum Opfer, lästige Risiken und Nebenwirkungen drücken immer noch das Zusammenleben.
Bis zum Februar 2022 haben wir offensichtlich in einer Scheinwelt gelebt und geglaubt, dass im behaglichen Nachkriegseuropa ohnehin keine Nation eine andere überfällt. Von einem Tag auf den anderen werden wir konfrontiert mit grauenvollen Nachrichten aus unserem europäischen Nachbarland Ukraine: tausende Tote, zerstörte Städte, verwüstete Landstriche, Millionen Vertriebene und flüchtende Menschen.
Soziale Gerechtigkeit, die Gesundheit, der Frieden, die Völkerfreundschaft – vieles verschüttet, gar verloren? Worauf lässt sich in diesem Schmelztiegel falscher Gewissheiten überhaupt noch bauen? Lasch nehmen wir zur Kenntnis, wie die Zahl der Angriffe und Beschimpfungen gegen jüdische Mitbürger zunehmen. Wird sich der beschworene Klimaabgrund wie Armageddon auftun? Eines ist gewiss: Je länger wir mit der Reduzierung der Emissionen warten, desto schlimmer werden die Auswirkungen in der Welt, in der wir leben.
Der verstörende Blick in die amerikanische Seele liefert der Welt die pessimistische Konstante. Nach jedem Amoklauf und Terroranschlag mit vielen Opfern – so lautet die Faustregel -- boomen regelmäßig die Aktienkurse amerikanischer Waffenhersteller.
Die Worte im Griff halten
In der Psychotherapie kann man viele Probleme lösen, wenn die Menschen darüber sprechen. Aber die Gefahr eines Atomkrieges bannt man nicht, indem man sie immer wieder heraufbeschwört. Je weniger aufgeregt über die Atombombe geredet wird, desto wirkungsloser wird dieses psychologische Horrorszenario sein. Seit der Kubakrise, in der kein einziger Schuss fiel, wirkt die Atombombe allein ihrer Existenz wegen über die Angst. Die Furcht vor einer apokalyptischen Selbstauslöschung der Menschheit war allgegenwärtig.
Seither sind 77 Jahre vergangen und „am 24. Februar 2022 wachten wir plötzlich in einer anderen Welt auf,“ formulierte es Annalena Baerbock. Der Überfall der Atommacht Russland auf die Ukraine mitten in Europa hat in uns alte Ängste wachgerufen. Die Gefahr eines 3. Weltkrieges oder eines Atomschlags ist wieder da. Während allerdings der sowjetische Machthaber Nikita Chruschtschow in der Kubakrise bei Entscheidungen in ein Politbüro eingebunden war, hängt heute alles an einem einzigen Mann – Wladimir Putin.
Putin, sein Außenminister Sergej Lawrow und die gigantische russische Propagandamaschinerie nutzen die Existenz ihrer Atombombe gekonnt, um durch psychologische Horrorszenarien den ohnehin für schwach gehaltenen Westen noch mehr zu schwächen. Die Zögerlichkeit Deutschlands bei der Lieferung von Waffen, wobei Bundeskanzler Olaf Scholz immer wieder die Gefahr eines drohenden Weltkriegs heraufbeschwor, beweist nur, dass russische Provokationen Wirkung zeigen.
Die Politiker der westlichen Demokratien müssen sich bewusst sein, dass ihre Sprache Wirklichkeit schafft. Je weniger aufgeregt über den Atomkrieg geredet wird, desto wirkungsloser wird die Bombe als psychologische Waffe eingesetzt werden.
Wladimir Putins Faschismus
Der Tatbestand ist offensichtlich: Russland ist in die Ukraine eingefallen, hat Krankenhäuser, Schulen und ganze Wohnviertel zerstört, tausende Menschen getötet und Millionen vertrieben. Wladimir Putins Narrativ von der Vernichtung des Faschismus in der Ukraine und einem drohenden Genozid der russischsprachigen Bevölkerung entpuppt sich als perfides Ablenkungsmanöver aus Moskau.
Lügen dienten von Anfang an als Vorwand für den Krieg in der Ukraine. Seit 2014 behauptet der Kreml, dass die Revolution im Nachbarland Ukraine 2013/2014 ein Staatsstreich gewesen sei, die damalige Regierung eine Junta war, dass die Ukrainer Nazis seien und der Beitritt des Landes zur Nato eine Sicherheitsbedrohung für Russland darstelle. Gründe genug, dem Land die Souveränität zu rauben und es unter die Knute Moskaus stellen zu wollen.
Der Krieg in der Ukraine hat ans Licht gebracht, was bis dahin ein offenes Geheimnis war: „Der Faschismus des 20. Jahrhunderts hat eine neue Heimat in Russland gefunden,“ sagt Michael Khodarkovsky, Professor für Geschichte an der Loyola University Chicago. Putins Leitmotiv sei purer Faschismus und wie bei allen solchen Regimen gehe es um imperiale Nostalgie, Restauration und Expansionismus. Faschistische Regime stützen sich auf Beschwerden, auf empfundene Demütigungen durch das Ausland und auf einen „nationalen Führer, dessen Männlichkeit, Wille und Entschlossenheit versprechen, die Relevanz und Größe der Vergangenheit wiederherzustellen,“ erklärt der Historiker.
CIA-Direktor William Burns sieht in Putin schon „seit Jahren eine jederzeit entflammbare Mischung aus Kränkung und Ehrgeiz brodeln.“ Durch massive Propaganda wurde dem russischen Volk eine Gehirnwäsche verpasst. Die Gesellschaft wurde durch paramilitärische, patriotische Clubs für Jugendliche militarisiert, die Verbreitung von Kampfsportvereinen unterstützt und das Militär modernisiert.
Im Westen ist er, außer wachsamen Historikern, nicht sehr bekannt, doch der Kremlherr und sein innerer Kreis sind seit jeher begeisterte Leser von Iwan Iljin (1883 – 1954). Dieser Philosoph ist der Ideologe des russischen Faschismus und seine rassistischen Schriften propagieren die geistige und moralische Überlegenheit gegenüber dem Westen sowie die Errichtung einer nationalen Diktatur, gestützt von Kirche und Militär. Ein Russland, genauso wie es Wladimir Putin vor Augen hat und umwandeln will. Erster Stimmführer in diesem faschistischen Orchester ist Patriarch Kyrill, der in seinen Predigten Woche für Woche gegen die angeblichen ukrainischen Nazis und den verkommenen Westen hetzt.
Iljins Vorbilder waren Hitler und Mussolini und bis zu seinem Tod im Jahr 1954 hielt er an seiner Vision eines faschistischen „Heiligen Russlands“ unter der Führung eines nationalen Führers fest. Es ist dieser messianisch-christliche russische Faschismus, der Wladimir Putins Welt ist. Er war übrigens im Jahr 2005 persönlich an der Überführung der sterblichen Überreste Iljins aus der Schweiz nach Russland beteiligt und veranlasste die Weihung des Grabes.
Ein zweiter Name kommt ins Spiel, bei dem Iwan Iljins Ideen auf fruchtbaren Boden fielen: Der heute 62jährige Alexander Geljewitsch Dugin, Philosoph und Politologe, ist der stärkste Verfechter des russischen Faschismus. Der ehemalige Hardcore-Kommunist und Nationalist stachelt seit Jahren zum Krieg gegen die Ukraine auf. Er ruft immer wieder zu „echtem Faschismus“ in Russland auf, der als Bollwerk gegen die amerikanische Hegemonie und den liberalen Westen dienen sollte. In seinem Buch „Grundlagen der Geopolitik“ kündigt er an, dass aus Russland ein großes eurasisches Reich werden würde, welches, mit Deutschland und Japan eine Achse bildend, die USA aus Europa vertreiben und die Nato zerstören wird. Der Bestseller wurde schon Ende der 1990iger Jahre als Lektüre in die russischen Militärakademien aufgenommen.
Das heutige Russland ist, wie alle faschistischen Regime, ein expansionistischer, messianischer Staat, der auf die Renaissance seiner vermeintlichen Größe und göttlichen Mission bedacht sei, sagt Michail Chodarkovsky. Frieden stehe jedoch im direkten Widerspruch zu den Grundfesten einer solchen Gesellschaft. Was bringt uns die Zukunft: Das faschistische Russland könne entweder in Grenzen gehalten oder konfrontiert werden, angesichts des barbarischen Krieges in der Ukraine stehe eine Eindämmung außer Frage.
Zwischen Ohnmacht und Zuversicht
In meinen Jugendjahren nach dem Zweiten Weltkrieg erlebten wir die Gegenwart als Chaos und Unsicherheit. Gefühlt war alles im Umbruch: Gesellschaft und Politik, Wirtschaft, Kultur und die Kirche. Die alten Ordnungen waren brüchig geworden, neue Strukturen, die uns Halt und Sicherheit geben sollten, wurden ersehnt, waren aber noch nicht in Sicht.
Dieser Zwischenzustand setzte sich fort, bis der Staatsvertrag den Österreichern neues Selbstverständnis schenkte und wir am Radio aufgeregt Leopold Figls leidenschaftliches „Österreich ist frei“ mitverfolgten. Die Kirche kam dann nach dem konziliaren Zwischenhoch neu und tiefer in die Krise. Europa und die Welt waren noch immer im Kalten Krieg festgefahren, bis der Kommunismus scheinbar implodierte. Während sich im Nahen Osten bedrohliche islamische Revolutionen ereigneten, verschärfte sich gleichzeitig die weltweite soziale Ungleichheit und die ökologischen Probleme traten immer massiver zu Tage. Und wieder fühlte man sich unsicher im Wartestand und wurde ungeduldiger.
Der Weltfriede, den man sich nach dem vermeintlichen globalen Sieg der demokratischen und kapitalistischen Systeme erwartet hatte, ließ auf sich warten. Nine-Eleven war das nächste Schlüsselereignis und brachte eine längst überwunden geglaubte finstere religiöse Gewalt zum Ausbruch. Mit China drängte sich immer heftiger eine neue bislang unbeachtete Weltmacht auf, während in Europa der Zusammenhalt schwächelte. Die Flüchtlingsströme führten zu menschlichen und politischen Verwerfungen.
Nach der Migrationswelle im Jahr 2015 lag bleierne Schwere über ganz Europa. Wieder aufflammender Nationalismus und Rechtspopulismus, Terror, Rassismus und Antisemitismus, in vielem angstbesetzt und hassgesteuert, entstanden aus dem Nichts. Regime wurden zusehends autokratischer und totalitärer, die Demokratie wirkte bedroht. Die Kirche wurde durch die Aufdeckung ihrer Skandale in ihrem Selbstbild und Wirken erschüttert.
Und heute? Das über Jahrzehnte hin Unvorstellbare ist eingetreten. Es herrscht wieder Krieg in Europa. Es ist kein Bürgerkrieg wie beim Zusammenbruch Jugoslawiens. Ein hinterhältiger Angriffskrieg der russischen Weltmacht gegen die souveräne Ukraine. Damit geht am alten Kontinent die längste Friedensperiode der Geschichte zu Ende. Sterbende Menschen, zerstörte Infrastruktur, Cyberwar, Sanktionen: Ein hybrider Krieg, beim dem die Schlachtfelder unüberschaubar sind und die größte Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg zu beklagen ist. Dieser Krieg wird militärische Auswirkungen auf Europa und die Welt haben. Der Kalte Krieg war nie wirklich vorüber müssen wir erkennen. In Amerika, dessen politische Kultur nach Trump verrottet ist, will die neue Führung wieder die transatlantischen Beziehungen pflegen und zurück zu alter Weltmachtstärke. Afrika wird zum Armenhaus und China erscheint immer bedrohlicher.
Wenn die Menschheit die schreckliche Plage Corona -- gleichwohl die größte soziale Herausforderung unserer Gesellschaft mit zwei Jahren erzwungener Häuslichkeit und Kontaktreduzierung -- überwunden hat, wird sie sich weiterhin vielen drängenden Problemen, insbesondere dem Klimawandel und der Migration widmen müssen. Entweder es gelingt in den nächsten Jahren eine grundlegende Transformation unserer Art und Weise, den Planeten Erde zu bewohnen, oder wir steuern auf eine humanitäre, biologische und ökologische Katastrophe globalen Ausmaßes zu. Noch aber gibt es nach wie vor Hoffnung. All diese Mühsal hat das technokratische Selbstbild der Menschheit erschüttert und in ihrer Unbezähmbarkeit immer mehr Zeitgenossen verängstigt. In der Konkurrenz mit anderen Weltanschauungen schwächelt das Christentum und die Kirchen schaffen es nicht, ihre innere Zerrüttung aufzuarbeiten und ihre Botschaft zu vermitteln.
Wie reagieren die Christen? Einige träumen von einer Kirche, irgendwie heil eingebettet in festen Ritualen. Sie idealisieren ein Christentum des 19. Jahrhunderts, rückgreifend auf ein verklärtes Mittelalter, das es so nie gab. Andere klagen hartnäckig überfällige Reformen ein und nicht wenige flüchten in abstruse Verschwörungsideologien. Bei allen Gruppen gehört Unzufriedenheit zum vorherrschenden Lebensgefühl. Die Türen stehen offen für Fake News, Lüge und Manipulation. Die Sehnsucht nach Sicherheit, Ordnung und zeitloser Wahrheit wird immer radikaler als Traum entlarvt.
Wie leben Christen in diesem Zustand? Schon vor 2000 Jahren verkündete Jesus die Apokalypse als gegenwärtig und seither hat sich das nicht geändert. Christen dürfen die Dinge dieser Welt dennoch genießen, sie leben in Nähe und zugleich in Distanz zur Welt. Ihre Haltung ist Vertrauen und Geduld. Der Philosoph der evolutionären Welt, Pierre Teilhard de Chardin SJ, sagt: „Über allem traue der langsamen Arbeit Gottes. Denn das ist Gesetz aller Entwicklung, dass der Weg über verschiedene Phasen der Instabilität geht und sehr lange Zeit braucht.“ Das Dazwischen zu akzeptieren, fordert uns Menschen heraus.
Kyrill droht die Isolation in der Orthodoxie
Der Krieg in der Ukraine hat nicht allein Kremlchef Wladimir Putin zum internationalen Buhmann gemacht. Er nagt auch am Image des Moskauer Patriarchen Kyrill., der mit Putin verbündet ist, und er spaltet die russisch-orthodoxe Kirche. Kritik am Kreml gehörte schon in der Vergangenheit nie zum Repertoire von Kyrill. Stets wurde die volle gegenseitige Unterstützung im Kampf Russlands gegen die „Kräfte des Bösen“ betont. Es sei vom Westen „abscheulich und gemein“, ein Volk gegen das Brudervolk aufzuhetzen und die Ukrainer zu bewaffnen, damit sie gegen ihre russischen Brüder kämpfen, protestierte der Kirchenführer in einer Predigt. Er verstehe sich als Patriarch der ganzen Rus und Primas der Kirche, deren Herde sich in Russland, der Ukraine und anderen Ländern befinde. Die Begriffe „Angriff“ und „Krieg“ vermeidet er, und Putin wird mit keinem Wort erwähnt.
Immer wieder werden die gemeinsamen historischen Wurzeln zwischen dem russischen und ukrainischen Volk beschworen, die auf die Taufe der „Rus“ zurückgehen, die im Jahr 988 unter Großfürst Wladimir I. in Kiew und anderen Städten stattfand. Dieses Geschichtsbild begründet auch die Gemeinsamkeit zwischen Patriarch und Präsident. Die Großfürsten und später die Zaren hatten auch in kirchlichen Fragen das Sagen. Diese Staat-Kirche-Beziehung folgt dem Prinzip der „symphonia“. Da passt es gut ins Bild, dass sich Putin und Kyrill, beide mit KGB-Vergangenheit, gegenseitig Orden verliehen und die Kirche Putin bei den Präsidentenwahlen unterstützte. Die Kirche erhob keinen Einspruch gegen die Krim-Annexion 2014 und die folgende Militäraktion im Donbass. In diesem Kirchenverständnis ist auch keine Zurechtweisung des Staates vorgesehen, wenn dieser Dissidenten maßregelt.
Für eine Eigenständigkeit der Ukraine haben weder Putin noch der Patriarch Verständnis, daher auch der heftige Widerstand gegen eine neu entstandene, eigenständige orthodoxe Kirche in der Ukraine. Stattdessen verlieh Moskau dem eigenen Ableger in der Ukraine (UOK) einen autonomen Status. „Die Grenzen der Kirche werden nicht von politischen Präferenzen, ethnischen Unterschieden oder gar Staatsgrenzen bestimmt“, erklärte der „Heilige Synod“ – die Kirchenleitung – des Moskauer Patriarchats 2014.
Doch dieses Gefüge ist jetzt einer Zerreißprobe ausgesetzt, und die Autorität Kyrill I. ist brüchig geworden. Nicht nur Gläubige der UOK, die dort die meisten Pfarren hat, sondern überall in der Welt verweigern dem Patriarchen offen die Anerkennung. Mehr als 800 orthodoxe Theologen erklärten, wegen der Unterstützung für den Krieg höre die russisch-orthPatriarch Kyrill droht die Isolation in der Orthodoxie Der Moskauer Kirchenführer unterstützt den Kreml und dessen Krieg in der Ukraine. Das wollen viele Bischöfe, Gläubige und Theologen nicht mitmachen.odoxe Kirche (ROK) auf, „die Kirche des Evangeliums von Jesus Christus“ zu sein.
Die Unterzeichner üben auch scharfe Kritik am Konzept der „Russischen Welt“, das von der ROK und Putin vertreten wird. Dem Konzept zufolge gibt es eine transnationale russische Sphäre oder Zivilisation namens „Heilige Rus“, die gegen einen angeblich korrupten Westen und dessen liberale Ideale steht. Die Theologen bezeichnen diese Lehre u.a. als „Ketzerei“ und „zutiefst falsch, unorthodox, unchristlich und gegen die Menschheit gerichtet“.
Im Staatskirchentum lag und liegt die Gefahr der orthodoxen Kirchen. Wie schon unter Kaisern und Zaren sind sie heute der Gefahr ausgesetzt, ein gefügiges Werkzeug des Staates oder einer Partei zu werden. Verschärft zeigt sich diese Situation im Nationalismus. Die Kirche war für slawische Völker unter Fremdherrschaft oder sozialistischen Regimen oft der letzte Hort für die Pflege der eigenen Identität. Die daraus entstandene nationalistische Ideologie diente der Orthodoxie oft genug, ethnische Rivalitäten aufzuheizen, statt ausgleichend zu wirken. Diese Entwicklung hat nach dem blutigen Zerfall Jugoslawiens gerade deshalb so fanatische Ausmaße angenommen, weil Kirchen – nicht allein die orthodoxe – diesen Nationalismus lange gefördert hatten, etwa die Katholiken in Kroatien und die Orthodoxie in Serbien.
Historische Naivität
Die gescheiterte Russland-Politik des Westens der letzten Jahrzehnte ist auch in Deutschland erdacht worden. Niemand hat so oft mit Putin verhandelt wie Angela Merkel und ihr Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Beide haben Wladimir Putin nie einen „lupenreinen Demokraten“ genannt, sie waren nie korrupt und sie haben keine Millionen von seinem Gas-Imperium kassiert, wie ein Gerhard Schröder. Aber ihre und damit die Russland-Politik des Westens ist mit dem Überfall Putins auf die Ukraine historisch gescheitert an der Naivität, einem notorischen Lügner und Geschichtsverdreher zu glauben.
Putin hat seine revanchistische Blut-und-Boden-Ideologie jahrelang verfolgt, nur wollte sie im Westen niemand wahrhaben. Er strangulierte nicht nur in seinem Russland Demokratie, Rechtsstaat und Menschenwürde, sondern auch in Belarus und in den Autokratien des Kaukasus. In Syrien halten seine Fassbomben auf Zivilisten den Schlächter Assad immer noch im Amt.
Doch nicht nur das unbedarfte Europa hat Fehler gemacht. Barack Obama hatte bald die Lust verloren, weiter mit der „Regionalmacht“ Russland zu reden, nachdem ihn Putin wieder und wieder belogen hatte: um die Ukraine könnten und sollten sich fortan die Europäer selbst kümmern. Diese Europäer waren damals Angela Merkel und Francoise Holland. Es blieb ihnen nichts anderes übrig.
Das Minsker Abkommen, das Putin jetzt in der Luft zerriss, war der Versuch, einen Mann, der das Völkerrecht mit Füßen tritt, in einen Rechtsprozess zu ziehen und so einen Wortbrüchigen beim Wort zu nehmen. Die Separatisten sollten regionale Wahlen und ein Sonderstatut bekommen, sobald Waffenruhe herrsche. Die Ukraine unterschrieb nur, weil sie schon damals Putins Revolver an der Schläfe hatte.
Patriarch Kyrill steht voll hinter Putin
Ein Hintergrund
Die Kritik am Kreml gehörte schon in der Vergangenheit nie zum Repertoire des Moskauer Patriarchen Kyryll I. In regelmäßigen Treffen zwischen Wladimir Putin und dem Kirchenoberhaupt wurde stets die volle gegenseitige Unterstützung im Kampf Russland gegen die „Kräfte des Bösen“ beschworen. Bei einer Feier zum „Tag der Verteidiger des Vaterlands“ am 23. Februar behauptete Kyrill wie der Kreml, dass Russland an seinen Grenzen bedroht werde und legte Tage darauf in seiner Predigt nach: „Wir dürfen uns nicht von dunklen und feindlichen äußeren Kräften verhöhnen lassen.“
In diesem orthodoxen Kirchenverständnis ist auch keine Zurechtweisung des Staates vorgesehen, wenn dieser Andersdenkende maßregelt. Die Kirche erhob keinen Einspruch gegen die Annexion der Krim im Jahre 2014 und die Militäraktion im Donbass oder jetzt die Umzingelung der Ukraine. Tausende Menschen, die in diesen Tagen in ganz Russland gegen den Ukrainekrieg demonstrieren, tun dies ohne den Schutz ihrer Kirche.
Der Vorsteher der russisch-orthodoxen Kirche verstehe sich als „Patriarch der ganzen Rus und Primas der Kirche, deren Herde sich in Russland, der Ukraine und anderen Ländern befinde“, betonte Kyrill am Tag des Überfalls der russischen Truppen auf das Nachbarland. Die Begriffe „Angriff“ und „Krieg“ vermied er dabei und Wladimir Putin erwähnte er mit keinem Wort. Stattdessen forderte er sämtliche Konfliktparteien auf, alles zu tun, um Opfer der Zivilbevölkerung zu vermeiden, und erinnerte an eine gemeinsame jahrhundertealte Geschichte zwischen dem russischen und ukrainischen Volk, die auf die Taufe der Rus zurückgehe.
Dieses Geschichtsbild begründet die Gemeinsamkeit zwischen Patriarchen und Präsident. Unter Großfürst Wladimir I. fand im Jahr 988 die Taufe der „Rus“ in Kiew und anderen Städten statt. Sie nahmen den griechisch-katholisch orthodoxen Glauben an und nannten sich Prawoslawniji, d. h. Rechtgläubige. Wobei „Rus“ die zu dieser Zeit in Kiew herrschende Dynastie bezeichnete und nicht mit dem später entstandenen Russland identisch ist. So gesehen ist Kiew geographisch und geistlich eine zentrale Verbindung für die – übrigens erst 1943 bei der Wiederherstellung des Patriarchats durch Stalin so titulierte – russisch-orthodoxe Kirche.
Die Großfürsten und später die Zaren hatten auch in kirchlichen Fragen das Sagen. Diese Staat-Kirche-Beziehung ist vergleichbar mit der im Byzantinischen Reich unter Konstantin. Es ist dies das Prinzip der „symphonia“, wie es auch heute Patriarch Kyrill vorlebt. Die Metropoliten bzw. Patriarchen stützten den Staat und der Zar gewährte der Kirche freie Hand, die sich so ungestört entwickeln konnte. Unter Zar Peter I. dem Großen (1689 – 1725), band sich die Kirche noch enger an den Staat. Der Zar ließ den 1700 frei gewordenen Patriarchenstuhl von Moskau unbesetzt. An seine Stelle trat der vom Zaren berufene „Heilige Synod“ als höchster Würdenträger der Kirche. Seit der Zeit Peters des Großen machten sich in der russischen Kirche protestantische Einflüsse stark bemerkbar. Um Missstände abzubauen zog Katharina II., die Große, das Kirchengut ein und sorgte selbst für die Besoldung der orthodoxen Geistlichkeit.
In den folgenden Jahrhunderten unterlag die orthodoxe Kirche in Russland einer völligen Kontrolle durch den Staat und entfremdete sich fast völlig den intellektuellen Eliten. Dieser Zustand hielt bis zur Februarrevolution von 1917 an, in der das Kaisertum abgeschafft wurde und es auch keine Patriarchen mehr gab. Fortan wurde die Kirche als Relikt aus früherer Zeit und als Unterstützerin des Klassenfeindes verstanden und erbarmungslos verfolgt. Unter dem fanatischen Kirchenhasser Lenin und dann unter dem stalinistischen Terror kam es zu massenhaften Verhaftungen. Millionen Russen verschwanden für immer in sibirischen Gulags.
Die Rettung vor ihrer endgültigen Vernichtung brachte ausgerechnet der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die UdSSR 1941. Gleich nach dem Einmarsch der Deutschen erklärte sich die russische Kirche mit dem Staat solidarisch und rief die Gläubigen zur Verteidigung des Vaterlandes auf. Nach dem Krieg konnte die Kirche unter großen Einschränkungen existieren. Nur dem Staat gegenüber loyale Priester kamen in Führungspositionen und Bischöfe rühmten bei Auslandsbesuchen die Religionsfreiheit in der UdSSR. Man entschied sich lieber für Zusammenarbeit mit dem Staat als für die offene Konfrontation. Ein Zustand, der sich bis zur Perestrojka unter Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts hielt. Langsam fand die Kirche wieder ihre neue Rolle in der russischen Gesellschaft.
Unter Kaisern, Zaren und Parteisekretären konnte die russische Kirche ein willfähriges Werkzeug des Staates oder der Partei werden. Dieses von der Geschichte übernommene Modell der „symphonia“ zeigt ganz deutlich, die bis heute noch nicht aufgegebene Abhängigkeit der Russischen Orthodoxen Kirche vom jeweiligen politischen Regime, hat eine lange geheiligte Tradition. Wenn sich heute Wladimir Putin gerne öffentlich bekreuzigt, weiß er genau, was er tut und was der gläubige Russe gerne sieht. Der Kremlherr braucht die Kirche als Garant für traditionelle Werte, wie er sie versteht. Da passt es gut ins Bild, dass sich Putin und Kyrill gegenseitig Orden verliehen und die Kirche natürlich Putin bei den Präsidentenwahlen unterstützte.
Für eine Eigenständigkeit der Ukraine haben weder Putin noch der Patriarch Verständnis, daher auch der heftige Widerstand gegen eine eigenständige orthodoxe Kirche in der Ukraine. Das 1992 nach der Unabhängigkeit des Landes gegründete „Kiewer Patriarchat“ wurde zunächst von keiner anderen orthodoxen Kirche anerkannt. Moskau verlieh der konkurrierenden“ orthodoxen Kirche (UOK) einen autonomen Status. Kyrill vermied es allerdings, die Krim-Diözese aus der UOK herauszulösen. „Die Grenzen der Kirche werden nicht von politischen Präferenzen, ethnischen Unterschieden oder gar Staatsgrenzen bestimmt“ erklärte der „Heilige Synod“ – die Kirchenleitung – des Moskauer Patriarchats 2014. „Die Krim sei und bleibe ein unveräußerlicher Teil unserer einheitlichen und multinationalen Kirche.“
Für Moskau war es eine große Provokation, das Patriarch Bartholomäus I. von Konstantinopel als Ehrenoberhaupt der Orthodoxie auf jahrelanges Bitten der Regierenden in Kiew die Gründung einer unabhängigen orthodoxen Kirche der Ukraine (OUK) auf den Weg brachte - der sich die UOK nicht anschloss. Kyrill kündigte daraufhin umgehend die kirchliche Gemeinschaft mit Konstantinopel sowie mit allen Kirchen auf, die die neue autokephale Kirche anerkannten.
In der Ukraine hat Kyrill bereits in den vergangenen Jahren viel Vertrauen verspielt und dies dürfte sich angesichts seiner jetzigen Haltung noch verstärken. Selbst die zu seinem Patriarchat gehörende UOK unter Metropolit Onofri hat sich unmissverständlich zur „staatlichen Souveränität und territorialen Integrität“ der Ukraine bekannt. Ihre Bitte an Kyrill, sein hochpriesterliches Wort zu sprechen, damit das brudermörderische Blutvergießen auf ukrainischem Boden aufhört, und Putin aufzufordern, den Krieg einzustellen, blieb bisher unerhört. Der staatshörige Kyrill dürfte seinem Ziel der kirchlichen Einheit von Moskau bis Kiew einen Bärendienst erwiesen haben.
Aggression zielt auf uns alle
Wir stehen da in unserer halbwegs abgesicherten Welt, die gerade dabei ist, eine Pandemie in den Griff zu bekommen, und suchen nach Erklärungen: denn eine Formel, wie einer blindwütigen Aggression zu begegnen ist, haben wir nicht. Plötzlich erkennen wir, Europa war nach 1945 noch nie so ungeschützt, wie in diesen Tagen. Diese Aggression geht nicht von einem Land aus, sondern von einem Denksystem, das Demokratie genauso hasst wie Freiheit und das jegliche Menschenwürde missachtet.
Die russischen Attacken gegenüber der Ukraine zielen natürlich auch auf unsere freiheitliche Gesellschaft. Es tangiert uns sehr wohl, Länder im Umkreis unserer europäischen Schutzzone plötzlich als Vasallen und Marionetten degradiert zu sehen, deren Fäden von Moskau aus gezogen werden.
Einst fungierten finstere Marxisten und kommunistische Parteien in Westeuropa als trojanisches Pferd Moskaus, heute sind es in Paris, Berlin oder Wien autoritäre und rechtskonservative Ideologen, die offen ihre Sympathien für den Kriegsverbrecher Putin bekunden und denselben bei jeder Gelegenheit hofieren.
Die freie Welt hat schon sowohl 2008 beim Angriff der russischen Armee auf Georgien als auch 2014 bei der Besetzung der Krim und Teilen der Ostukraine keine wirksame Sprache gegen diese Aggression gefunden. Wenn es schlimm kommt, werden wir wieder – wie damals im Prager Frühling 1968 – mit Tränen in den Augen zuschauen, wie russische Panzer durch die Ukraine rollen. Man sollte sich die düsteren Sätze Henry Kissingers vergegenwärtigen: Wenn der Frieden, gedacht als Verhinderung des Krieges, oberstes Ziel einer Staatengruppe ist, hängt das Schicksal des internationalen Systems vom rücksichtslosesten Mitglied der internationalen Gemeinschaft ab.
Der Flüchtling ist nur noch Spielball
Die Corona-Pandemie dominiert Nachrichten und Politik. Doch die Dauerthemen Flucht und Asyl kochen immer dann hoch, wenn Konflikte militärisch zu eskalieren drohen. Da darf der Weißrusse Alexander Lukaschenko die Flüchtlingsfrage weiterhin instrumentalisieren. Er hat ja wegen der Sanktionen noch eine Rechnung mit Brüssel offen und lässt dies die Migranten spüren. Russland sieht zu, wenn Menschen bei Eiseskälte mit Wasserwerfern zurückgetrieben werden.
Der Flüchtlingskonflikt an der belarussisch-polnischen Grenze ist aber weniger als ein großes Komplott zu sehen, es handelt sich vielmehr um einen Bumerangeffekt. Derzeit besteht die Migrationspolitik der EU nur aus Feilscherei und Erpressung. Die „Koalition der Willigen“ wird erst zusammenfinden müssen, dazu steuert Österreich großzügige Worthülsen wie „Allianzen der Vernunft“ bei. Um mehr Menschen abschieben zu können, wird die Unterzeichnung von Rücknahmeabkommen an die „Entwicklungsmillionen“ der EU gebunden. Unwilligen Staaten wird gedroht, eben keine Visa mehr auszustellen.
Die EU bezahlt Erdogan vier Milliarden Euro dafür, dass er die Flüchtlinge im Land behält und sie nicht wild in den Westen losschickt. Abermillionen werden dafür lockergemacht, dass Marokko die Grenze zu Ceuta und Melilla sichert, dass Libyen niemand über das Mittelmeer lässt und für Niger, dass es die Schleuse durch die Sahara zusperrt.
Es sei Menschenhandel, was das Regime in Belarus macht, nannten es die Franzosen pharisäisch im November des Vorjahres. Tage später räumte die Polizei die Flüchtlingszelte in Grande-Synthe und Calais und ließ die Zelte mit Messern zerfetzen. Es vergingen keine drei Wochen, dann starben 24 Flüchtlinge bei dem Versuch, den Ärmelkanal zu überqueren.
Sprachwandel und Gendern
Die Hälfte der Menschheit ist weiblich; das sollte sich auch in Wort und Schrift zeigen, fordern die Sprachreformer. Gendern ist Fortschritt und bringe mehr Sensibilisierung für Sexismus. Geschlechtergerechtigkeit ist noch nicht erreicht. Die Gegner kämpfen einen verlorenen Kampf. Befürworter einer „geschlechtergerechten Sprache“ wollen dies durch diverse Studien untermauern. Diese seien allerdings nach Meinung von Linguisten äußerst dürftig und methodisch anfechtbar. Der gesunde Menschenverstand hält ja ohnedies vieles für kaum glaubwürdig. Die Folge dieses Diktats ist das programmierte Abrutschen in ein unverständliches Kauderwelsch. Die Sprache ist ja wehrlos. Die einen verlangen, dass neben der alten verallgemeinernden männlichen Form immer auch die weibliche mitgeführt wird, andere wollen das abwechselnd haben, wieder andere, dass man beide Formen in einem Wort zusammenführt und die weibliche mit einem Sternchen oder Doppelpunkt, Unterstrich oder Schrägstrich, Binnen-I oder angehängtem in/-innen usw. markiert
Wörter wie Piloten, Soldaten, Terroristen rufen wohl männliche Vorstellungen hervor. Auch Türken, Ungarn und Japaner denken sich Piloten, Soldaten und Terroristen vor allem als Männer – obwohl ihre Sprachen weder maskulinum noch femininum kennen. „Bilder im Kopf“ ändern sich manchmal überraschend schnell, und die Realitäten verändern sich genauso. Nach dem 76 11. September 2001 sah man beim Wort Terroristen weltweit in etwa: Männer aus dem Nahen Osten. Und wie war es noch früher in den 1970er- und 80er-Jahren? Woran dachten wir damals bei den Terroristen der RAF Andreas Baader, Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin, Klaus Jünschke…? Sicher an Männer und Frauen! Im allgemeinen Sprachgebrauch sind die Damen ja von alters her in der männlichen Wortform inbegriffen. Wer argumentiert, Gendern ist Sprachwandel, der ignoriert, dass nachhaltiger Sprachwandel immer vom alltäglichen mündlichen Gebrauch des Deutschen ausging. Sprachdiktate haben zur miserablen Rechtschreibreform geführt
Der bekannte Sprachwissenschaftler Hans-Martin Gauger sagt: „Die feministische Sprachkritik überschätzt gewaltig die bewusstseinsbildende Macht einer Sprache.“ Wer die Realität ändern will, muss die Realität ändern und nicht die Sprache. Die These „Sprache prägt das Bewusstsein“ ist der Grundirrtum aller „GendererInnen“. Dagegen mit diversen Studien ankämpfen zu wollen, dürfte auch in Zukunft kaum Erfolg bringen. Bleibt noch eins: Wer gendern will, soll das aus gutem Grund und Überzeugung tun, darf aber niemanden dazu zwingen. Dass die große Mehrheit das weiterhin aus gesundem Menschenverstand heraus entbehrlich findet, muss er akzeptieren. Die beinahe militante Forderung einiger nach einer gendergerechten Sprache kommt einem politisch motivierten Fundamentalismus verstörend nahe.
Corona und die vielen Normalitäten
Corona-Zeiten wird kaum ein Schlagwort öfter bemüht als „die Sehnsucht nach Normalität.“ Etwas, von dem alle zu wissen glauben, was es sei, ist plötzlich stillgelegt. Das Selbstverständliche ist auf einmal problematisch, ja sogar gefährlich geworden. Mit der Relativität des Normalen sind wir täglich konfrontiert. Bodybilder und Hoteliers, Feministinnen und Bankmenschen sind und empfinden verschieden. Die Realität von Flüchtlingen und Fremden ist eine andere als die von Alteingesessenen. Das gilt es zu respektieren. In der Unterschiedlichkeit des Normalen ist also der Begriff der Normalität schon vorausgesetzt. Was ist die Norm (norma, lat., ist ein Winkelmaß, ein Terminus der Architektur), und was ist normal?
Da geht es erst einmal ins Grundsätzliche. Das Lexikon sagt es uns etwas kryptisch knapp: Alles ist entsprechend und vorschriftsmäßig. Wenn wir dieser Norm entsprechen, haben wir ein normales Gesicht, eine normale Größe, einen normalen Geisteszustand, sind richtig im Kopf, sind zurechnungsfähig und leben in normalen Verhältnissen. Die Norm wird uns als das Übliche und Richtige vorgestellt. Sie soll demnach auch als Imperativ verstanden werden und inhaltliche Richtschnur unseres Handelns sein. Normalität ist also sowohl ein sozialer als auch ein mentaler Tatbestand. Für uns ist sie objektive Gegebenheit und Empfindung zugleich, sie bezeichnet einen gefühlten Zustand der Gesellschaft, der einem Orientie- 51 rung und Sicherheit gibt. Wo sind nun die Gründe und Ursachen eines solchen Gefühls zu suchen? Wenn wir Gesellschaft als Alltag und Ordnung wahrnehmen, liegt das an der Selbstverständlichkeit etablierter Rechtsnormen. Es sind die Gesetze und Vorschriften, die für alle gelten, etwa die Verkehrsregeln, das berechenbare Funktionieren von Institutionen, die Strukturen von Staat und Wirtschaft usw. All dies lenkt unser tägliches Handeln in einer Weise, die wir uns kaum bewusst machen. Die Pandemie konfrontiert uns mit neuen Bedingungen und Vorschriften. Gruppenbildungen sollen vermieden werden, die übliche Geselligkeit bei der Arbeit und in der Freizeit ist suspendiert. Ohne Maske geht gar nichts mehr. Gedankenlosigkeit ist gefährlich und kann manchmal sogar bestraft werden. Diese „Normalität“ im Alltag wird jetzt neu organisiert.
Eine alte Normalität sei unwiderruflich im Schwinden begriffen und niemand wisse, welche neue Normalität sich in den nächsten Jahrzehnten herausschälen und wie sie beschaffen sein werde, sagt der Soziologe Rainer Paris. Was wir jetzt schon erleben, sind die Probleme der Migration und die Gefahr von Parallelgesellschaften. Auch die Erosion in den Familien und die tiefen Gräben in Bildung und Kultur begünstigen eine Zersplitterung der Gesellschaft. All dies vollzieht sich im Rahmen einer sich langfristig verändernden „normalen“ Zeit. Durch die Zustände werden wir uns dann weitgehend daran gewöhnt haben. Normalität ist nichts, was gemacht und geplant wird, sie stellt sich einfach ein und gibt uns die Rahmenbedingungen vor.
Der Atlas der Seuchen und Pandemien zeigt uns in diesen Corona-Zeiten ein eindeutiges Bild: je südlicher, desto mehr und vielfach tödlicher. Die fehlenden Mittel zu ihrer Bekämpfung und das Vergessensein sind die 52 beständige Normalität in der Dritten Welt. Die Gesundheitssysteme liegen in vielen Staaten am Boden, wie in Kongo, Liberia, Guinea und Sierra Leone. Auch Corona setzt den Menschen in Afrika zusehends zu. Pest und Lepra sind bis heute noch nicht verschwunden und werden auch wegen Corona nicht aufgeschoben. Diese grauenvollen Normalitäten werden die Zeiten überdauern, solange der saturierte Norden zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
Gesellschaft in Defensive
Mit dem Sturz des Kommunismus 1989 glaubte man, die Geschichte steuert jetzt endlich auf freie Gesellschaften in freien Ländern hin. Keiner sah den heutigen Zustand voraus: autoritärer chinesischer Kapitalismus in Gestalt Xi Jinpings, eine halbfaschistische Diktatur Russland unter Putin, eine islamistisch-nationalistische Türkei Erdogans oder „illiberale Demokratien“ innerhalb der EU. Das sind die fragwürdigen Alternativen zu unserer liberalen Gesellschaft.
Die freie Gesellschaft ist heute überall in der Defensive. Der weltweite Terror hat zu einer vorauseilenden Selbstzensur der Medien in der freien Welt geführt. Lange vor dem Sieg der Taliban in Afghanistan sorgten ihre Brüder im Geist, die radikalen Islamisten, für die größte Gefahr im liberalen Westen. Gemeinsam mit dem autoritären Kapitalismus haben sie bei uns längst in Gestalt rechtsextremer Parteien und islamistischer Netzwerke ihre fünften Kolonnen und nützlichen Idioten gefunden.
An Grundprinzipien des Liberalismus, wie die Freiheit des Individuums oder eine tolerante Gesellschaft, glauben heute immer weniger Menschen. Wir geben vor, die Meinungsfreiheit zu verteidigen, wenn es aber darauf ankommt, versagen wir. Antisemitische, rassistische oder frauen- und schwulenfeindliche Äußerungen sind jedoch „keine Meinungen“, sondern sind pure Aggressivität und Intoleranz.
Karl Popper sah die Gefahr und meinte, solange wir den Intoleranten „durch rationale Argumente beikommen und wir sie durch die öffentliche Meinung in Schranken halten können, wäre ihre Unterdrückung höchst unvernünftig.“ An der Toleranz ist noch keine Demokratie zugrunde gegangen, allenfalls am Mangel an Zivilcourage gegenüber jenen, die Intoleranz im Namen der Toleranz predigen.
Die Eiche
Mit rauer von moos durchfurchten rinde
stehst da wie ein stolzer vater unter kindern
efeu und geißblatt rankt sich dem Stamm hinauf
und zornig zucken die knorrigen äste
ein Alter vom berg ein riesiger held
was könntest du erzählen
wäre rede dir verliehen
von opfernden priestern umgeben
vernahmen sie leise im dunkel des schattens
das wehen der gottheit
geweiht dem erhabenen zeus
dem mächtigen donnerer thor
wer mutig gefochten den sieg errungen,
den krönte ein kranz von deinem laub
Die Buche
Du liebst die sanfte fläche den sonnigen hügel
unter allen die geselligste schließen deine
wurzeln freundschaft mit andern
leicht und stolz steigt dein runder schaft und
glatt und dicht umschließt dich die silbergraue rinde
von keinem moos benagt
dein Laub quillt in üppigster fülle
vom frost berührt erglänzt dein blatt in feurigsten farben
Die Linde
Du bist der liebling und
lebst in alten gesängen
gezecht, gespielt und erzählt
wird unter deinem schattigen dach
dich engt kein wald
du kannst dich herrlich entfalten
im satten grün
und herrliche blüten
durchwürzen die welt
Die Fichtenkiefer
Wo dünner sandboden
keinen andern mehr duldet
bist frisch und fröhlich zur hand
wie kein anderer kletterst du mutig
und kühn steile berge empor
und keine anderere bringt so
herrliche wälder hervor
frage den bauern den tischler den künstler
alle werden dich preisen und loben
ist dir auch der schatten des laubes
versagt so hält doch harziger saft
deine dichten nadelblätter grün
ewig
zeit geschenkt
zeit für mich
was mir gegeben
wo mein Besitz
grenzen spür ich
ewigkeit
hoffnung der Zeit
ernte
freiheit
wer weiß ich
was weiß ich
freiheit hab ich
sklave des tuns
bange
dies zu leben
.zuversicht
trost in dem
der freiheit geschenkt
pflicht muss
selbst ich leben
ausweglos
ich bin
der war
wurde
im Leben
schmerz klage
freude liebe
Zukunft
unbegreiflich